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Wo gehobelt wird, fallen Späne, wo geschliffen oder gemeißelt wird, fliegen Staub und Splitter. Also Reste und Funde, Reflexionen und Schnurren: der Steinmetz unplugged. Bitte Schutzbrille aufsetzen!

Taugenichts Tod
Wenn ein Mensch stirbt, so verschwindet zunächst mal und endgültig seine innere Lebendigkeit, seine Sinneseindrücke, der ständige Bewusstseinsstrom, Leiden und Freuden, die immer nur verstümmelt mitteilbar sind. Die Lust am Spargelessen, stimuliert womöglich von der Genugtuung, sich das leisten zu können, sind wie die chronischen Rückenschmerzen, die eine CT-Aufnahme veranschaulichen, aber nicht fühlbar machen kann, Ausdruck einer einsamen Robinson-Existenz, die nur sich selbst genügt und mit dem Tod spurlos erlischt. Natürlich ist ein Mensch noch viel mehr, nämlich die Summe der Gefühle, Bilder, Gedanken, Träume, die er bei allen auslöst, mit denen er in Berührung kommt, im Grunde jede einzelne Spur, die er bei anderen hinterlässt. Nicht zu vergessen bei Nahestehenden deren Habitus, Vorlieben und Abneigungen, Traumata, ganze Affektlandschaften. Nimmt man noch die vorbewusste Weitergabe von Genen über viele Generationen hinweg dazu, erweitert sich das Bild zu einem wahren kosmischen Sternennebel, dessen Zentralgestirn jeder Lebende ist. Denkbar, ja wahrscheinlich, dass ein Molekül der Existenz von Frau Zhao aus Shanghai sacht Herrn Reitmeier aus Gütersloh von der Seite anstupst. Das Weiterleben nach dem Tod ist also garantiert, dafür muss man nicht auf dem Sterbebett fromm werden. Für manche mag diese Aussicht ein Trost sein, für andere, die verschwinden möchten im restlosen Nichts, eher eine unangenehme Vorstellung, die ihre Auflösungshoffnung torpediert.

Die Zeit vor dem letzten Einschlafen – und wie viele tausend Male ist man zuvor eingeschlafen in der Gewissheit, anderntags wieder zu erwachen und genau an dem Punkt weiterzumachen, den der Schlaf, ein unbedeutendes Stocken im nur ewig vorstellbaren Lebensfluss, markiert hat – tendiert regelmäßig zu Dramatik, auch bei reizärmster Lebensform. In der messianischen Phase des Untergangs herrscht gewöhnlich der familiäre Ausnahmezustand bei Verlierern wie Gewinnern eines Morgens und Übermorgens. Manche verstecken das gut wie die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung, Frau S., die im regen Mailaustausch dem Steinmetz exakte Regeln der Rechnungslegung vorgab. Zuletzt ging es noch um das Auf- und Abrunden von Centbeträgen im Nachkommabereich, was nur noch Kopfschütteln auslöste. Nach ein paar Wochen erfuhr ich, dass Frau S. am Tag ihrer letzten Mail an Krebs verstorben war. Dem Anschein nach hatte sie bis zuletzt die Routine aufrechterhalten, mit äußerster Kraft ihren Alltag verteidigt, bis sie der alte Streuner auf sehr leisen, auf Viertelcentsohlen mitnahm. Von außen betrachtet könnte man darin Tapferkeit, einen beiläufigen Heroismus der Normalität sehen, aber mit gleichem Recht auch den ohnmächtigen Versuch eines Bannzaubers, wie er Kindern und Tieren eignet: wenn ich die Augen zumache und mich totstelle, passiert mir schon nichts.

Vom zweiten Schicksal in dieser kleinen Typologie des Sterbens erzählte mir ein Bekannter, eine vormalige Führungskraft in der Wirtschaft und gesalbt mit genügend Nonchalance für Plaudereien über die letzten Dinge beim Mittagskäffchen. Sein Vater, mit dem er sich nicht gut verstanden hatte, lag im Krankenhaus im Sterben. Der Sohn setzte sich am Abend zu ihm und wollte reinen Tisch machen, damit der eine in Frieden ginge und der andere in Frieden weiterlebte. Der Vater ließ den Sohn auflaufen und starb ohne Aussprache. Ohne Zweifel ist das eine traurige Geschichte, vielleicht aber keine banale. Der finale Abspann mag für alles Mögliche geeignet sein, eine pastoral untermauerte Hoffnung aufs Paradies, letzte Worte, die sich einprägen, oder, extrem selten im realen Leben, das überraschende Geständnis einer Missetat. Die Heilung familiärer Entfremdungen, die dafür notwendige innere Schubumkehr zu Durchlässigkeit von Charakter und Person, verlangt aber, ohne Beimischung von Alterssentimentalität, vor allem Kraft und Entspanntheit, wo doch auf den letzten Metern meist Schwäche und Verkrampfung den Ton angeben. Nein, für aufreibende Spiele wie Familienaufstellung oder die Aufarbeitung frühkindlicher Bindungsproblematik ist es doch zu spät. Für ein Lächeln, eine Berührung und die fast heitere Solidarität derer, die bald nachfolgen werden, dagegen nicht.

Meine Toten, die Menschen, die in meinem Umkreis gestorben sind, taten das alle auf sehr verschiedene Weise. Keiner und keine durchlief mustergültig die Phasenfolge nach Kübler-Ross, die im Hospiz, bei absehbarer Restlaufzeit plausibel sein mag. Da gibt es den legendären Tod des einen Großvaters, der nach Öffnen der Morgenpost am Küchentisch zusammensackte, ein schmerzloses, geradezu perfektes Ableben, das schon allein Unsterblichkeit im Sagenbuch der Ahnen garantierte. Dagegen stand der langsame und qualvolle Krebstod des anderen Großvaters, der zwar auch zu Hause, im eigenen Bett starb, eigentlich der Goldstandard in der Liste der letzten Wünsche. Der Überlieferung nach reichten die viel zu knappen Morphiumgaben aber nicht für einen friedlichen Tod. Solch elendes Eingehen und sinnloser Todeskampf konfrontiert mit der unvergänglichen Frage, einem Reflex der Menschlichkeit, wozu das Ganze gut sein soll und ob es nicht besser wäre, sich vorher ein paar Pillen einzuwerfen und zu verabschieden.

Das Ende ist banal und herzzerreißend. Meine alte Freundin Frau L., der die Anrede mit Vornamen auch bei guten Freunden zu ordinär war, rückte in ihren letzten Jahren und Monaten immer weiter weg und es blieb noch die verwaschene Telefonstimme, die mich zwang, den Hörer ans Ohr zu pressen, um ab und zu mit den richtigen Stichworten dienen zu können. Schwindelattacken und Stürze, das alte Lied, hatten sie immer weiter eingeschränkt, mit den wechselnden Ukrainerinnen vertrug sie sich nicht gut, das Flügelspiel war schon lange aufgegeben, Besuch nur noch im Familienkreis möglich. So bleiben vom großen und langen Leben die Klage und die Resignation und der Sonnenstrahl, wenn der kleine Urenkel vorbeikommt. Solch ein Sterben erfüllt endlich auch die angstvolle Prophezeiung, die jeder Freundschaft voransteht und sie immer begleitet, dass sie in den Mühlen des Verschleißes zugrunde gehe. (02.04.2024)

Eskalation
9. Oktober. Gestern hat mich so ein Arschloch mit seinem E-Roller fast vom Rad gekegelt. Kam vom Französischkurs von der Kaiserlei-Brücke her, schwarze Nacht, etwas Nieselregen. Die Brücke gut überstanden bei schwacher Vorderlichtfunzel, von Regen gekörnter Brille und Dauerblendung durch den Gegenverkehr. Fühlte mich eigentlich sicher auf dem schmalen, gut beleuchteten Fahrradweg vorm Festplatz, da kommt mir dieser Roller entgegen. Großer fetter Typ, die meisten sehen ja aus wie übergewichtige Russlanddeutsche, die AFD wählen, irgendwas mit Computer machen und zu faul zum Radfahren sind. Ist zwar unverschämt, auf dem ausweichlosen Weg in falscher Richtung zu fahren, aber wir wären bei präzisem Lenken aneinander vorbeigekommen. Bemerke zu spät die riesige schwarze Umhängetasche, aufgebläht in meine Richtung, dann der Stoß und ich kann mit Mühe den Sturz ins Gebüsch noch abfangen. Der Typ fährt einfach weiter, höre nur noch sein höhnisches Lachen.

10. Oktober. Jetzt reicht´s mir, gegen diese Pest muss was getan werden. Dieser klobige Elektroschrott breitet sich immer mehr aus. Man stolpert im Dunkeln darüber. Man muss die Dinger mühsam wegschieben, wenn sie wieder mal vor der Haustür oder dem Tor vorm Steinelager parken. Die Fahrer, großteils Schwachmaten, die sich vorübergehend von ihren beim Wettrennen zerschrotteten Sportkarren trennen mussten, holen sich gleichwertige Adrenalin-Kicks auf der schnellsten Ideallinie über Gehwege, Straßen und rote Ampeln. Nur die jungen Mädchen, die zu zweit kichernd oder mit stierem, mit der Anstrengung der Mutprobe vollgesogenem Blick auf riskantem Parcours vorüberschwanken, sind die putzige Ausnahme. Sonst ist auch rein optisch, fürs männliche Auge, nicht viel zu holen, die stehende Haltung verwässert auch prominente Profile zu fadem Einerlei. Nein, dieser gefährliche Schwachsinn muss verschwinden, auf die Politik zu warten, hat keinen Sinn. Ich kämpfe jetzt im Untergrund, werde zum Guerillero im Großstadtdschungel, bis der letzte Roller im Main versenkt oder ins Hinterland abgezogen ist.

13. Oktober. Der Zufall will es, dass mir heute wieder so eine Zweiraddrohne entgegenkommt, allerdings vorschriftsmäßig auf breitem Radweg für beide Richtungen. Im letzten Moment mache ich einen Schlenker darauf zu, stelle noch etwas das Bein raus und streife damit den Lenker. Dann in Panik in die Pedale getreten, den lauten Schrei meines Gegners im Ohr. Mit diesen Typen, die in die Muckibude wie zur Kirche gehen, ist nicht gut Kirschen essen. Zuhause muss ich mich erst Mal beruhigen. Der Kampf Aug´ in Aug´mit dem Feind ist nicht mein Ding. Muss es geschickter anstellen.

23. Oktober. Habe mir angewöhnt, an einem liegenden Roller nicht mehr vorbeizulaufen, sondern ihn wie um Ordnung bemüht wieder aufzurichten. Dann, als wenn sich für einen Moment die Balance nicht halten ließe, kippe ich das Ding mit Schmackes zur anderen Seite und gehe scheinbar frustriert weg. Dass die Teile klobig und sackschwer sind, kommt mir entgegen, hoffentlich geht beim Sturz was kaputt.

25.Oktober. Die Gelegenheit ist günstig, der Wendehammer vorm Lagertor menschenleer, der Roller lliegt etwas abseits am Zaun. Zeit um etwas Neues zu probieren. Das mitgebrachte Zeitungspapier lodert sofort hoch, aber die Dinger scheinen unbrennbar zu sein. Es gelingt nach einigem Probieren immerhin, das Display etwas anzukokeln. Mehr leider nicht. Schneller Rückzug, hoffentlich hat mich keiner bemerkt.

7. November. Erinnere mich, vor Wochen einen bekannten Obdachlosen gesehen zu haben, der einen E-Roller neben sich her schob. Seine Taschen baumelten am Lenker. Seltsame Szene, nicht direkt naturgesetzwidrig wie rückwärts fliegende Vögel, aber schon sehr ungewöhnlich. Das Ding piepste, wohl in programmiertem Protest, dauernd vor sich hin, wurde aber von dem kräftigen Mann stoisch, und, wie mir schien, mit einem gewissen Stolz auf seine Cleverness vorwärts geschoben. Da müsste doch etwas zu machen sein. Eine Idee wäre, viele Roller in den Ostpark zu den Quartieren der Obdachlosen zu bringen. Die irgendwie damit nerven, die Ausgänge zuparken oder so, und die destruktive Kraft der Armen nutzen gegen die destruktiven Kräfte der Moderne, die ihr Leben zerstört.

10. November. Man muss den Feind kennen, den man besiegen will. Deshalb habe ich mir widerwillig die App runtergeladen und bin erstmals mit so einem Teil gefahren. Damit es sich auch lohnt, gleich mal am Main entlang, eine breite leicht abschüssige Promenade. Fährt sich gut, ein lautloses Gleiten, fast wie Fliegen.

16. November. Fahre jetzt nur noch mit E-Roller, lasse das Fahrrad stehen. Mache extra Umwege damit, saugutes Fahrgefühl. Macht richtig süchtig.

24. November. Mir fällt in letzter Zeit auf, dass diese hässlichen Leihfahrräder wieder überhand nehmen. Das war ja schon früher eine Pest, dieser Schrott war schon vor Jahren mal flächendeckend in der ganzen Stadt verteilt. Dagegen sollte man vorgehen. Auf die Politik ist da kein Verlass. (26.12.2023)

Kleine Praxiskunde Urologie
Zum Urologen gehe man außer frisch geduscht mit einem inneren Lächeln und einer Prise ironischen Übermuts, wie zu einem nicht ganz seriösen Event, einem Kinderfilm im Kino oder einem Besuch im Zoo. Wer mag, stimme sich mit harmlosen Kalauern ein der Güte „zu diesem Besuch braucht man wirklich Eier“. Wobei das gar nicht stimmt, im kargen, aber geräumigen Warteraum der Praxis von Herrn Dr. S., an einer umtriebigen Straßenecke im Osten der Stadt gelegen, sitzt auch eine Frau und eine weitere gesellt sich während der viertelstündigen Wartezeit dazu. Die Vorstellung, in der Praxis einer Urologin zu sitzen, nehme mann zum Anlass, sich innerlich zu straffen und ganz seriös zu werden. Also bitte, wir alle, Patient_innen, Arzt, Assistentinnen, sind jetzt ein Team, ein sportiver Kampfverband und marschieren ins Feld gegen den großen Krebs und nebenbei, vom Schwung mitgerissen, die kleine Blasenentzündung.

Sofern man das komplette Vorsorgepaket gebucht hat, ist zu Beginn die Urinabgabe fällig. Wer vorher noch pinkeln musste oder nicht genug getrunken hat, ist jetzt gezwungen, in der auffallend sauberen und seniorengerecht beschrifteten Praxistoilette zu fighten wie ein ausgebrannter Sportler beim Dopingtest. Man sehe vor streberhaftem Überfüllen des kleinen Plastikbechers ab, halbvoll reicht. Schon die einschüchternde Reinlichkeit ringsum nötigt zu peniblem Entfernen jeglicher Spritzerchen, die beim ungewohnten Füllmanöver danebengehen. Bitte jetzt nicht etwa den Becher lässig neben der Designervase auf der Empfangstheke abstellen als servierte man einen frisch gepressten Gewürztee. Dafür kassiert man verdientermaßen die Ermahnung des Doktors selbst, der jetzt zum Mitarbeiterplausch persönlich aufgetaucht ist. Das Zeug hält zwar die ganze Praxis am Laufen, eignet sich aber nicht zum Willkommensgruß für Neuankömmlinge.

Im Warteraum wird der Gruß nur sparsam erwidert, auch im Detail bleibt man gerne incognito. Für Vergessliche überraschend ist der eigentlichen Untersuchung wieder eine Blutentnahme für die Ermittlung des PSA-Werts vorgeschaltet. Bei dieser harmlosen Prozedur verfestige man endgültig die innere Haltung nüchterner Sachlichkeit, die dem White-Cube-Ambiente von Behandlungsraum und Assistentin entspricht. Nach angenehm kurzer Pause im Wartezimmer, man ist ja Selbstzahler, geht’s dann direkt hinein ins Allerheiligste, ins etwas mehr Wohnlichkeit ausstrahlenden Arztzimmer, wo es jetzt an die Wäsche gehen soll.

Dr. S. ist nicht mehr der Jüngste, aber das Knarzen seiner weißen Sneakers, seine behänden Bewegungen und sonore Stimme vermitteln den federnden und sportlich zupackenden Schwung eines Mannschaftsarztes auf dem Sprung zu einem verletzten Athleten in der Arena. Das ist kein zimperlicher Hausarzt, der rektale Untersuchungen an Kollegen überweist aus Angst, sie könnten seinen Patienten Spaß machen. Dafür sorgt er schon selbst, der kernige Dr. S., das hat er ja selbst in der Hand, dass es keinen Spaß macht. Und ist sich damit einig zumindest mit dem durchschnittlichen Cis-Patienten, der es nicht leiden kann, wenn ein anderer Mann, der ihm, selbst aus den besten Gründen, an die Klöten und in den Enddarm fasst, vorsichtig hier und da herumdrückt und fragt, ob es weh tut. Rustikalität bis zur Schmerzgrenze, dazu die Aura von Professionalität und Sportlichkeit, zwei Sektoren, innerhalb derer sich Männer nahe kommen dürfen, spannen den verlässlichen Schutzschirm auf, unter dem die paradoxe nichtintime Intimität stattfinden kann.

Die leichte Anspannung, die hier selbst den routiniertesten Handgriffen beiwohnt, mildert die obligate Voruntersuchung mit Ultraschall. Der immergleiche Kommentar im Hesselbachton „leer bis auf den letzten Droppe“ stimmt weiter ein auf irritationsfreie Routine. Auch bei den robusten Tastuntersuchungen spiele man das Gespräch mit und bestätige wie letztes Jahr blanko den Abschluss der Familienplanung anhand einer harmlosen Verwachsung. Die Diskurstiefe in der Kommunikation mit einer Person, die deine Geschlechtsteile gerade auf links dreht, ist limitiert. Später dann, erleichtert wieder auf dem Rad, lässt sich frei sinnieren, etwa darüber, welche vorzeitlich erworbene Empfindlichkeit die Vorstellung abschreckt, sich mit solch einem Vorsorgearzt näher zu befreunden. Sei´s drum, man sehe die Sache als eine Art magisches Ritual an, einen stocksachlichen Bannzauber gegen den teuflischen Krebs, bei dem das Wiedersehen mit ihren Hohepriestern alle ein oder zwei Jahre vollauf genügt. (28.11.2023)

Friedhofsgeschichten (4) – Frau mit Rose
Auf einem innenstadtnahen Friedhof, mittelgroß und am trüben Wintervormittag fast menschenleer, geht der Steinmetz seiner routinierten Beschäftigung nach. Vor gut zwei Wochen ist seine Mutter gestorben, aber das Fanal, jetzt anders und tiefer weiterzuleben hat die Sperrschichten der Routine noch nicht durchsickert, die unterirdische Lebensader noch nicht erreicht. Zuletzt waren sie wohl nur noch verbündet in der gemeinsamen Erinnerung an Vergangenes, aber mehr wie Blindschachspieler, die ein unausgesprochen verbissenes Duell um den Sieg austragen.

Die Stille unterbricht eine Frauenstimme mit wiederkehrend kurzem Aufheulen, rohe Schmerzlaute, aber heller und kräftiger als die Proteste der sterbenden Mutter. Die Klagende, mittelalt und nicht vernachlässigt gekleidet, wandert in der Nähe herum, scheint den Steinmetz zu umkreisen und legt schließlich still eine langstielige weiße Rose auf das kleine Urnengrab direkt neben ihm. Der Steinmetz wagt nicht, sie anzusprechen, die Fremdheit, das Gefühl der Bedrohung in Smalltalk aufzulösen, was ihm doch erst gestern noch nach dem Pinkeln auf stockdunkler Wiese mit dem plötzlich aufgetauchten, überfreundlichen Mann noch gelungen ist.

Auch sie verharrt jetzt schweigend neben ihm, wie magnetisch angezogen vom einzigen Artgenossen weit und breit. Irgendwer kennt sie sicher, geht dem Steinmetz durch den Kopf, irgendeine Diagnose ist längst gestellt, die Therapie dieser Erkrankung oder Behinderung längst eingeleitet worden. Eine Psychiaterin, für die solches Verhalten täglich Brot ist, könnte jetzt sicher human mit ihr umgehen, etwas Nettes sagen, sie beruhigen, aber der Steinmetz entscheidet sich für Abwarten und geordneten Rückzug.

Später, er ist kurz zurückgekommen, um die obligaten Arbeitsfotos zu machen, folgt sie ihm wieder und verharrt am Nachbargrab, zerpflückt die weißen Blütenblätter und lässt sie unter Klagelauten auf die Graberde regnen. Vielleicht, denkt der Steinmetz später, war es eine Trauersimulation, wie sie auch gesunde Menschen befällt. Man spielt auf dem Friedhof Trauer, geschickt oder ungeschickt, bloß um der Einsamkeit und Verrücktheit zu entkommen. (28.02.2023)

Durchs wilde EUdistan
Der türkische Kollege war in der Heimat in Urlaub, mit dem Auto. Die ganze Nacht durchgefahren, ohne Fahrerwechsel, ohne größere Pause. Samstag, 10 Uhr gestartet in Oberhessen, Sonntag, 17 Uhr Ankunft in Izmir. Transitländer, die er erwähnt, Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien. Am gefährlichsten ist Bulgarien, meint er, da fahren die Abschleppwagen im Verbund mit Nagelwerfern auf der Autobahn hin und her und lauern auf Beute.

Deshalb sollte man nie allein fahren, um immer eine private Abschleppmöglichkeit zu haben. An den Tankstellen verabreden sich Zweierkolonnen, auch er wird angesprochen. Der Vorausfahrer fährt aber nur 100 – 110 km, zu langsam für seinen schnellen SUV und seine Müdigkeit, er macht Lichthupe, der andere fährt raus an die Tankstelle: „Kannst du nicht bisschen schneller fahren, das ist ja zum Einschlafen…“.

Sein Pass läuft nur noch einen Tag, dann wird er ungültig. Für die Grenzkontrolleure reine Ermessenssache, ob sie ihn noch durchlassen. Bestechung fast unmöglich, überall Kameras. Also gehen sie zum Kofferraum, Klappe hoch, schnell 20 Euro rüberreichen. In einem Transitland (überall zahlt man Autobahnmaut außer in Deutschland) verlangt ein Mautkassierer plötzlich 20 Euro. Vorher kostete das imer 8, 9 Euro. Jetzt 20 Euro ohne Quittung. Keine Chance sich zu beschweren. Der arbeitet schwarz in seine eigene Kasse. Vivat EU. (13.09.2022)

Sommerbuch
Kurz vor Abfahrt in den Urlaub fehlt noch der passende Lesestoff. Drei, vier Bücher sollten da reichen, obwohl das Reisemittel der Wahl wieder einmal das Auto ist mit seinem fast grenzenlosen Stauraum. Außerdem hat die flüchtige Vorbereitung die Hoffnung genährt, das Reiseziel sei nicht so langweilig, dass man ganze Tage mit Lesen verbringen muss. „Lesen kann man auch zuhause“, sendet die innere Protestantenstimme, die für die Notate der auflaufenden Defizite an Lebensabenteuern zuständig ist. Etwas Leichtes soll auch dabei sein, denn ob man wirklich vor Ort die Konzentration aufbringt, Autobiografisches von Benjamin oder Martin Walsers etwas zähen Politroman auszulesen, ist eher zweifelhaft. Da trifft sich gut, dass gerade ein vielversprechendes Büchlein vor der Entsorgung in den Bücherschrank durch die Ehefrau gerettet werden konnte, W. Somerset Maughams „Meistererzählungen“.

Maugham? Undurchdringliche Schleier vor erlöschender Erinnerung an jugendliche Lesegier, war das nicht – der Exot, der Maupassant dagegen, hm – der Franzose? Jedenfalls was Flottes zum Weglesen, vielversprechend genug, es einzupacken. Im Urlaub dann der Aufstieg zum einzig lesbaren Buch in anderthalb Wochen, nur kurz abgelöst vom leichtfertig von der liebenswürdigen Ortsbuchhändlerin erstandenen sackdämlichen Ortskrimi, der an noch tiefere Lesesedimente rührt, an die Western- und Supermann-Hefte früher Schulzeit. Gegen dieses Machwerk, das als Gag QR-Codes von kleinen Ortsunternehmen in den sogenannten Erzählstrang einbaut, müssen die Heftchen damals geradezu Tolstoische Sprachgewalt und psychologische Finesse aufgeboten haben. Jedenfalls schafft es an den freien Abenden nur Maugham, sich gegen die Lustlosigkeit zu geistigen Anstrengungen und den wundersam riesigen High-Tech-Fernseher zu behaupten.

Die erste Erzählung, „Der Brief“, zufällig aus der Mitte entnommen, liest sich schnittig mit klaren Dialogen und Personenzeichnung. Es geht um eine tödliche Dreiecksbeziehung, the same old story, von Ehemann, Ehefrau und deren Geliebten. Die Perspektive des coolen Anwalts, der die angeklagte Ehefrau vor dem Schuldurteil rettet, lässt uns die Rechtsbeugung als glatte Lösung des Falls billigend begleiten. Das exotische Umfeld, irgendwo im malaiisch-indonesisch-chinesischen Kolonialgebiet angesiedelt, bleibt farbenfroher Hintergrund, der chinesische Anwaltsgehilfe wird wohlwollend als klug und gerissen beschrieben, der elegant seinen Vorteil aus der Beziehungskatastrophe der Besatzerkaste zieht. Kurzum, serviert werden durchaus wohlschmeckende englische fish and chips, souverän verfeinert mit einer Prise fremder Gewürze.

Vom Leseflow überrascht und beglückt, fällt die nächste Wahl auf die Story gleich davor, „Die Tür des Schicksals“. Wieder steht im Zentrum ein englisches Ehedrama, wieder genießt der Leser ein Stück aus einer gediegenen Erzählermanufaktur, in der die Charaktere bis in die Details von Kleidung und Gesichtszügen, Sprechweisen und Sozialstatus sorgfältig gearbeitet sind. Wieder zertrümmert ein außerordentliches Ereignis die falsche Harmonie von Frau und Mann, aber diesmal schleichen sich fast unmerklich die politischen und sozialen Verhältnisse, in der vorigen Erzählung noch sorgfältig ausgeblendet, ins Bild. Ein Publikum, das alles goutiert, was sein imperiales Great Britain in den weltweiten Kolonien so treibt, solange es den eigenen Wohlstand mehrt, wird das Taktgefühl des Autors, seine diskrete Schonung durch Vermeidung, die koloniale Plünderung erkennbar zu machen, sicher geschätzt haben. Meisterlich, in diesem Sinne, lässt Maugham den Anlass der Ehekatastrophe, ein Aufstand von chinesischen Kulis in der Plantage eines Freundes des Paars, sehr beiläufig, wie einen Unfall oder die seltene Begegnung mit einem gefährlichen Dschungeltier erscheinen. Man lese ruhig einmal bei „Wikipedia“ nach, was „Kuli“ seinerzeit bedeutete. „Weitgehend rechtloser Tagelöhner“ ist noch eine verharmlosende Übersetzung, „Sklave“ trifft den Sozialstatus schon besser. Nichts liegt Maugham ferner, als die gut geölte Maschinerie der kolonialen Ausbeutung aufzudecken oder gar anzuklagen, ganz im Gegenteil.

Der Mann, Alban, dem die Frau, Anne, mit Tusch und Trommelwirbel die Ehe aufkündigen wird, ist zu Beginn der Handlung Distriktoffizier einer entlegenen Provinz irgendwo im heutigen Malyasia. Als intellektueller Feingeist, der glänzend Klavier und Tennis spielt und mühelos neue Sprachen lernt, wirkt er unter den ungebildeten Gummipflanzern und anderen Landsleuten wie ein Fremdkörper, was er im Konkon seiner Großartigkeit ignoriert. Anne bewundert und liebt ihn, und weil sie darüber hinaus auch in der britischen Peergroup beliebt ist, fungiert sie als eine Art soziale Schutzmembran, die dem osmotischen Druck missgünstiger Umgebungsteilchen standhält. Besagter Pflanzer wird also umgebracht, und jeder erwartet von Alban, dem Repräsentanten des Empire, eine schnelle Strafaktion. Der zögert, aus Klugheit, wie er meint, aus Angst und Feigheit, wie alle anderen denken, was ihn Job und Ehe kostet.

Dass die Macht aus den Gewehrläufen kommt, ist eine banale Wahrheit, die Jahrzehnte bis Jahrhunderte vor Mao schon alle räuberischen Eroberer, von den Portugiesen über die Engländer bis hin zu den Deutschen und aktuell den Russen in die Praxis umsetzten. Ein dicker Holländer mit gutem Schrotgewehr genügt fast allein, um eine erdrückende Menge Chinesen, die mit erbeuteten Waffen offenbar nichts anfangen können, niederzuwerfen. Alban fehlt als Debussy- und Gauguin-Liebhaber Erfahrung und Killerinstinkt, das Empire behauptet sich nicht durch Feingeister, sondern Lee-Enfield-Rifles. So weit, so brutal, aber klar. Es gibt aber noch eine kleine, man möchte sagen, infame Wendung, und hier kommt Humanität, also die Frau ins Spiel. Anne senkt den Daumen über den Looser Alban, weil der, hier ganz unsentimentaler Trooper, als Begründung für sein Zögern auch anführt, er setze doch nicht sein Leben aufs Spiel für die eingeborene Pflanzerfrau und ihre, Zitat, „halbblütigen Bälger“. Ein Mafioso wird gefeuert, weil er die Kernkompetenz, das Töten, nicht beherrscht. K.o. geht er aber erst durch den vernichtenden Vorwurf seiner Frau, nicht genug für die Kirche zu spenden. (26.07.2022)

Sehrsehr ungeil, ja geradezu cringey
Letzten Montag, so etwa 20 nach drei am Nachmittag, war meine Jugend vorbei. Dieser junge Schnösel von Autoverkäufer hat mich „älterer Herr“ genannt. Also nicht direkt, soviel hat er dann doch mitgenommen von seinem sicher fortlaufenden Verkaufstraining, wovon nicht nur die Erwähnung der ominösen Schwiegermutter kündet, die schon meine Kühlschrank-, Laptop- und Privatwagenkäufe bereichert hat. Und er ist natürlich auch kein Schnösel, sondern der seriöse, aber immer noch jugendlich wirkende Geschäftsführer eines Autohauses mit eindrucksvoller Wandgalerie an Qualifikationen und Auszeichnungen. Um genau zu sein sagte er, „schon ein anderer“ – kurzes Zögern, dennoch falsches Abbiegen – „älterer Herr, wenn ich das so sagen darf“ – nein, darfst du nicht, das macht es nur noch schlimmer – „hatte übrigens dasselbe Problem soundso.“ Im Grunde also lichten Haarkranz, Prostata, Lesebrille.

Ein vergleichbarer Schockmoment ereignete sich nur damals mit Ende Dreißig, in Wunsiedel im Fichtelgebirge auf Steinmetzfortbildung. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, an einer Bushaltestelle, übten sich ein paar kichernde Schulmädchen im Flirten, winkten und lachten fremden Jungs und Männern zu in fröhlicher Balance von Schülerstreich, Anmache und Mutprobe. Bei mir drehte sich, nach immerhin kurzem Zögern, wie mir schien, die eine weg und meinte zur Freundin, der wäre nun doch zu alt. Seitdem war die Männer-Älterwerden-Larmoyanz-Nummer aus meinem Leben verbannt, ich war clean.

Dann dieser peinliche Rückfall Montagnachmittag. Noch peinlicher nur noch, darüber auch noch zu schreiben. Wäre ich Japaner, träte ich unter Verbeugungen von allen Ämtern zurück und putzte eine Woche lang öffentliche Klos. Als Deutscher ohne Amt und Kollektiv am Hacken bleibt mir nur … Ich bin raus. (02.11.2021)

Glosse im Heuhaufen
Als Handwerker wundert man sich manchmal über das Missverhältnis von Haltbarkeit des Werkzeugs und dessen Preis. Ein guter Fäustel für 20 Euro, eine mittelteure Wasserwaage könnten durchaus eine einmalige Anschaffung fürs ganze Arbeitsleben sein, ließe man sie nicht eines Tages im Gebüsch oder bedeckt mit achtlos aufgeschaufelter Erde einfach liegen auf Nimmerwiedersehen. Wie kann der Fäustel-, der Wasserwaagenproduzent so überhaupt Geschäfte machen? Irgendwann sind 10 Millionen Stück an alle Hobbyhämmerer und Profis vertickt und das war´s dann. Zum Glück für unsere wachstumsbesessene Art zu wirtschaften gibt es aber Produkte wie Smartphones, Tablets oder Autos, die dem Ideal von hohem Anschaffungspreis in Verbindung mit kurzer Nutzungsdauer ziemlich nahekommen. Auch Bücher gehören in der Regel zu dieser fragwürdigen Kategorie, verstauben sie doch überwiegend nach einmaligem Lesen im Regal oder wandern als Spende in den nächsten öffentlichen Bücherschrank. Eine glänzende Ausnahme, und durchaus als Spartipp für Leute zu verstehen, die auch bei ihrem Kulturkonsum haushalten müssen, ist der im 2001-Verlag erschienene Nachdruck der „Fackel“ von Karl Kraus, der ab den Achtzigern für ca. 120 D-Mark erstanden werden konnte. Diese 12 Bände sind unerschöpflich und in jeder Hinsicht haltbar wie ein schwerer Fäustel mit Fiberglasgriff. Einen Haken gibt es aber dann doch, dem Nachdruck fehlen durchgehende Seitenzahlen, und so versinkt die als besonders witzig erinnerte kleine Glosse über die plötzlich verhasste Pariser Mode im 1. Weltkrieg ohne Markierung mit dem Lesebändchen im unendlichen Wörtermeer. Für ein Wiedersehen reserviere man einen freien Nachmittag, nehme den Weltkriegsband 1914 bis 1919 zur Hand und arbeite sich durch, systematisch suchend oder blätternd vor- und zurückspringend, sich immer wieder festlesend an einer radikal ausformulierten Sprache, die kunstvoll Tacheles redet. Wer will da je wieder Krieg führen, denkt man sich, wenn die Hetzer und Verhetzten so bloßgestellt werden als Banditen und Mörder, und ahnt doch zugleich, dass in der überkippenden Wucht der Anklage auch die Ohnmacht der extremen Einzelposition anklingt. Man durchblättert zaghaft die Schattenseiten, so Dostojewskis antisemitischen Aufsatz zur „Judenfrage“, dem Kraus kommentarlos Platz einräumt, oder Aphorismen wie Weibliche Juristen? Juris uterusque doctor? Blutiger Dilettantismus! was nach Incel mit großem Latinum klingt und ihn heute stracks der sozialen Ächtung preisgäbe. Endlich taucht die verlorene Glosse auf, taghell, und der Finder freut sich auf den Leselohn: Eine Wienerin meint: „…Besonders die hohen Kragen sind für mich ein Merkmal von Paris. Denn die Pariserinnen haben hohe, schmale, häßliche Hälse und müssen deshalb trachten, sie durch einen hohen Kragen zu verbergen. Die Wienerin aber, die einen schönen, weißen, molligen Hals hat, bedarf des schützenden Kragens nicht und will ihren Hals lieber frei tragen…“ Warum nicht, recht hat sie. Von der Pariserin, die sich auf Vergleiche wohlweislich überhaupt nicht einläßt, weil ihr eben die Lüge im schmalen Halse stecken bliebe, nimmt kein Hund mehr einen Bissen. Daß sie häßlich und ungraziös ist, hat man schon immer gewußt und sich nur nicht getraut auszusprechen. Aber jetzt, wo alle Rücksichten aufhören und man aus freiem Hals der Wahrheit wieder die Ehre geben kann, stellt sich auch noch heraus, daß sie weder montiert noch riegelsam, weder g’statzt noch Gluckert ist, weder, mangels jeglicher Hochquellenleitung, einen hübschen Kropf hat, noch ein zartes Goderl, von dem man sagen könnte, daß doppelt besser hält, weder eine g’schmackige Rückenlinie noch ein unterspicktes Vorderes, ferner daß es auch mit den Gspaßlaberln nicht zum besten bestellt ist und daß sie überhaupt nicht das ist, was man ein mudelsauberes Weibi nennen wird, und deshalb auch nicht so leicht Gelegenheit finden dürfte, zu einem Mandi »Gehn S‘ weg Sie Schlimmer!« zu sagen. Während hingegen, wie der Dichter hervorhebt, das Schöne und das Gute der Wienerin bekanntlich im Blute liegt, und wallt drin jederzeit. So daß also natürlich das Resultat »in punkto Feschität« ein tadelloses ist, aber schon »taarloos«, und man sich genötigt sieht, dazu »tulli« zu sagen oder, je nachdem, »Ihnen gesagt«. Nur in der Satire blitzt und blinkt es wieder in alter Pracht, das so operetten- und walzerdurchweichte, auf den Tod verschlissene Weanerisch. Wen interessiert da schon Pariser Mode? (26.10.2021)

Backe, backe Herrentorte
Das Bäckerhandwerk kann, was Tradition und Alter betrifft, mit uns SteinmetzInnen locker konkurrieren. Es ist immerhin das einzige Gewerk, wir erkennen es neidlos an, das es ins Vaterunser geschafft hat in Form des lebenswichtigen, täglichen Brots. Damit waren zwar weder die aufgewärmten Fabrikbrötchen von Aldi, Back-Factory und Konsorten und auch nicht der in Überdosis letale Frankfurter Kranz gemeint. Aber Brot war über die Jahrhunderte hindurch halt ein Grundstoff, ohne den nichts mehr ging, vergleichbar heute dem Handy oder dem SUV von Mittelstandchefs. Damit können Steinmetze selbst dann nicht mithalten, wenn sie ihre steinernen Bauwerkswunder ins Feld führen, die unstrittig dabei mithalfen, Glauben und weltliche Macht zu befestigen. Bleibt als Gemeinsamkeit der Staub, den Mehl und Stein bei der Bearbeitung freisetzen, eine unterschätzte Gefahr im Virenformat, deren Inkaufnahme die Menschheit sicher mehr Tote gekostet hat als die derzeit angesagte Pandemie.

Wenn der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Bäckereihandwerks, so sein vollständiger Titel, ein Herr Wippler, der Handwerkszeitung ein Interview zu politischen Fragen gibt, ist er natürlich von den alltäglichen Niederungen einer Backstube wie von der Anrufung der ehrwürdigen Berufstradition, die für Feiertage vorgesehen ist, gleich weit entfernt. Auf dem Foto lächelt er noch freundlich in die Kamera, vor sich ein goldgelber Brotlaib, der wie der aktuelle Knusprigkeits-Preisträger herausleuchtet aus der gedeckt-biederen Erscheinung mit kurzem Vollbart und gelbgestreifter FDP-Krawatte. Im Interview redet er dann Tacheles wie all die anderen bissigen Mittelstandsrottweiler von CDU, FDP und AFD. Geht es eigentlich nur mir so, dass man dieses von ständigen Wiederholungen ganz heiser klingende Gebell nicht mehr hören kann?  – Steuern runter, Kosten runter, Löhne runter, Chefvermögen rauf, Gewinne rauf. Ein Mindestlohn, der eine kleine, knapp auskömmliche Rente sichert, ist demnach, der FDP sei´s ins marktradikale Gewissen geredet, sozialistisches Teufelszeug:

Eine gesetzliche Vorgabe für den Mindestlohn ist völlig daneben. … Wo bleibt die unternehmerische Freiheit, seinen Betrieb nach den eigenen Vorstellungen zu führen, wenn der Gesetzgeber bei solch einem wichtigen Punkt etwas vorschreibt? Konsequent wäre dann auch ein Mindestpreis für Brot- und Backwaren. Aber dann kommen wir schnell in eine Planwirtschaft. Und die Geschichte hat genügend Beispiele geliefert, dass das nicht funktioniert.

So reden sie wirklich immer noch im Handwerk. Ihre Lobbyisten gerieren sich tatsächlich immer noch als letztes Bollwerk der Freiheit, die über die Jahrhunderte zersetzt und aufgezehrt wurde vom bösen Triumvirat Staat, Gewerkschaft, Sozialismus, angefangen bei den Zunftherren, die noch ihr Gesinde nach freiem Gusto züchtigen konnten, über die Industriekapitäne, die Posterboys des entfesselten Kapitalismus, denen eine pfiffige Erfindung in harmonischer Eintracht mit Hungerlöhnen zu märchenhaftem Reichtum verhalf, bis zur traurigen Gegenwart eines allgegenwärtigen, gängelnden Staats, der neuerdings ehrbare Kleinunternehmer auf Grundlage bloßer Gerüchte über Steueroptimierung mit einer sadistischen Bonpflicht quält. Aber zurück zum Mindestlohn, der ja durchaus populär und wahlentscheidend ist. Nur so erklärt sich wohl der überraschende Hauch an Skepsis in der nächsten Frage:

Aber manche Löhne reichen doch kaum zum Leben.

Damit landet man beim Falschen. Immerhin, Herr Wippler konzediert:

Wer als Handwerksbetrieb in der aktuellen Situation –

– unklar, was er meint, Corona? Inflation? Zuwenig Arbeitslose als Reserve? Lieber nix sagen, sonst klingt man am Ende noch wie ein Gewerkschafter…

– Mitarbeiter –

ein Bollwerk auch des generischen Maskulinums, bei geschätzt 70 % Mitarbeiterinnen

– halten und gewinnen will, muss ordentlich zahlen. Aber durch die gesetzliche Festlegung entsteht eine vergiftete Atmosphäre unter jenen Mitarbeitern, die nur Mindestlohn oder etwas mehr bekommen. Das führt zu gesellschaftlicher Abwertung.

Herr*_In des Himmels! Könnte bitte mal dieser Scheff seinen von Schefflederpolsterung verwöhnten Wertesten hochlüpfen und eine beliebige Backstube, eine beliebige Verkaufstheke aufsuchen in seinem weiten Bäckerreich und den Untertanen, will sagen Mitarbeiterinnen vortragen, was er so in ihrem Namen der Öffentlichkeit vorschwurbelt? Jawohl, Scheff, früher habe ich 7 Euro 85 verdient, da fühlte ich mich gesellschaftlich anerkannt. Jetzt bekomme ich fast 10 Euro und demnächst im Sozialismus vielleicht sogar 12 Euro, da fühle ich mich zunehmend gesellschaftlich abgewertet. Welcher Spindoktor der Neuen Initiative Sozialfreier Marktwirtschaft hat das denn Backherrn Wippler ins Gehirn gelötet? Aber wenn der schon keine Ahnung hat von seinen Beschäftigten, mit seinesgleichen kennt er sich aus. Den erwarteten Steilpass

SPD und Grüne haben sich für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ausgesprochen. Sorgen Sie sich um die Betriebsvermögen?

nimmt er Vollspann auf und verwandelt sicher:

Diese Substanz –

also, mal ganz unpolemisch, er meint damit SUV, siambeiges Cabrio für die Gattin, Chalet in Zermatt, Eigentumswohnungen für Kinder und Enkel, gerne auch ein kleines Off-Shore-Konto

– wurde in den Betrieben teilweise über Jahrzehnte mit harter Arbeit aufgebaut –

wohlgemerkt vom Chef ganz alleine, ein moderner Herkules

– und ist ein wichtiger Schutz in der Krise, wie es zuletzt die Pandemie gezeigt hat.

In der ohne Kurzarbeitergeld vom Staat Massenarbeitslosigkeit ausgebrochen wäre.

Wenn dann eine Steuer an diese Substanz geht, dann ist das nicht nur gefährlich für die Betriebe, sondern auch ein verheerendes Signal. Die Geschichte zeigt –

wiede´ die gleiche Leie´, heißt es schon bei Asterix, will sagen DDR, Kommunismus, sofortige Verelendung des zivilisierten Abendlands, sobald es den Sehrgutverdienern an ein paar Groschen geht

– dass durch staatliche Gleichmacherei jede unternehmerische Initiative gelähmt wird. Deshalb wäre das zu 100 Prozent ein Schritt in die falsche Richtung. Der beste Schutz für das Fortbestehen der Betriebe ist eine solide Eigenkapitalbasis.

So reden sie halt, im Betriebswirtschaftston ihrer über Jahrzehnte und Jahrhunderte antrainierten Kälte des Besitzers, des Entscheiders im Umgang mit dem Personal, der kostentreibenden Arbeitnehmerkaste, die ihre Haut zum Arbeitsmarkt trägt. In dieser Oligarchenwelt kommt keine selbstverwaltete Bäckerei, kein Gemeinwohl-Unternehmen hoch, die längst neben dem Vollkorn- und Bio- auch ein verkaufsförderndes Sozialsiegel für fair produzierte Backwaren etabliert haben müssten. Die gleiche Marktlogik, die Herr Wippler zum Erhalt des Handwerks beschwört, führt zu börsennotierten Ketten und am Ende zu Amazon, das auf seinem Marketplace sicher noch ein Plätzchen frei hat für traditionell handgemachte frische Brötchen. (19.10.2021)

Fast ein Sonntagskind geworden
Familienanekdoten sind ein bisschen wie Songs von Abba im Radio, man kann sie wirklich nicht mehr hören, aber es ist schwierig, sie ganz zu vermeiden. Während der Seniorensender, auf den man versehentlich getappt ist, schnell und problemlos wieder verlassen werden kann, zöge ein solches Vorgehen im Gespräch die empfindliche Störung der Generationenbeziehung mit sich. So lauscht man meist mit höflicher Zerstreutheit den immergleichen Geschichten und schult sich beiläufig in jener ökonomischen Vergesslichkeit, die fähig macht, das gleiche Buch immer wieder neu zu lesen. Längst begeht man nicht mehr den Irrtum, es persönlich zu nehmen, wenn wieder von den verdächtig braunen Flecken an der Hose die Rede ist, die nach einer langen Urlaubsreise im vollgestopften Familienauto entdeckt wurden und sich als harmlose Schokolade herausstellten. Man spürt die Einladung, es als Ehre anzusehen, Teil eines großen Familienepos zu sein, das in ritueller Wiederholung unantastbar, ja heilig wird. Dabei hat es diese Sammlung kleiner Geschichten gar nicht verdient, zum Ohrwurmgedudel oder dem Gemurmel liturgischer Glaubensformeln einer auf ewig bezeugten Überlieferung herabzusinken. Schauen wir doch mal, ob sich dem mürben Stein ein paar Funken entlocken lassen.

Die Mutter, gelernte Pädagogin, erzählt gerne die Anekdote, ihre Mutter sei zu Verwandten zu Besuch gekommen und habe in kürzester Zeit den, nennen wir es mal „verhaltensauffälligen“ kleinen Theo kuriert. Eingezwängt in eine sogenannte Laufbank, in der sich der Einjährige nur wenige Meter vor- und zurückbewegen habe können, hätte dieser sich angewöhnt, nach seinen lieben Gefängniswärtern um ihn herum zu spucken. Im Laufe des Tages habe sich meine Oma immer wieder zu Theo gewandt und gerufen: „Theo, spuck nochmal!“ und Theo habe gespuckt. Am Abend sei es dann geschafft gewesen und endlich die erlösende Antwort „Enää!“ gekommen. Mit dem Spucken sei es dauerhaft vorbei gewesen.

Es ist vollkommen legitim, seine Eltern als Vorläufer der eigenen Profession zu rühmen, zumal der Opa immerhin ein guter Ausbilder von Schutzhunden war. Man muss aber keine modernen Handbücher der Pädagogik wälzen, um Zweifel zu haben, ob die Geschichte diesen Zweck erfüllt. Oma hätte auch gut und gerne zurückspucken können, alle hätten ihren Spaß gehabt und abends wäre das Problem genauso behoben oder ein tolles neues Spiel gefunden worden. Als meine Mutter viel später ihrerseits um Rat gefragt wurde, wie ihr Bruder seinen Sohn auf den rechten Pfad der Tugend zurückbringen könne, der im Zuge seines Coming-Outs Schwulenmagazine hortete, empfahl sie schlau und ganz im Geiste ihrer Mutter, ihn mit Unmengen einschlägiger Hefte, Bücher, Videos zuzuschütten. Dieser Vorschlag wurde meines Wissens vom eher zimperlichen Vater niemals umgesetzt, er taugt bestenfalls zur netten Anekdote. Sonst hätte ich womöglich als schlaues Kind nur immerzu um Taschengeld gebettelt in der abgefeimten Absicht, mit Scheinen überschüttet zu werden. Okay, um ehrlich zu sein, das hätte die Mutter rasch durchschaut und das frühreife Kind als undankbar gescholten. Pädagogik ist ja die Kunst, am längeren Hebel zu sitzen, auch wenn sie versagt.

Auch der deutlich schmalere Anekdotenschatz des Vaters enthält einige Perlen.

Nach dem Krieg, nach langer Lernunterbrechung, habe sich mit ihm eine Schar junger Leute in einer Schule zur Abiturvorbereitung eingefunden. Dort sei einer von ihnen wieder auf seinen alten Lehrer getroffen. Dieser habe zunächst gestutzt und dann nach der ersten Überraschung nachgefasst: „Na Klauke, sind Sie immer noch so doof?“ Der so Begrüßte habe statt einer Antwort sofort seine Sachen gepackt und sei auf Nimmerwiedersehen gegangen.

Klauke? Das ist doch ganz eindeutig Theo, der Laufbank, Pädagogik, Hitler-Jugend und vor allem den Krieg als Soldat überlebt hat und jetzt einem Gespenst begegnet, einem Abgesandten der alten Mächte einer wohlmeinenden Zurichtung, die ihn beinahe umgebracht hat. Ja, er war so doof gewesen, auf den Oma-Trick hereinzufallen, danach vielleicht skeptisch, wohl eher begeistert die Nazi-Parolen mitzubrüllen und endlich in den unvermeidlichen Krieg zu ziehen. Erst die Häme derjenigen, die es sich schrecklich leicht machen und korkengleich niemals untergehen, bringt ihn zur Besinnung. Reden ist seine Sache nicht, das Spucken wurde ihm leider früh schon abtrainiert, er packt nur wortlos seine Sachen und geht. Wer bleibt, kann bestenfalls Professor werden; wer geht, ist doppelt entronnen und frei.

Zuletzt (und hier verlassen wir endgültig Theo) noch eine Anekdote, die nicht aus der eigenen Familie stammt, gleichwohl als Referenz dienen mag dafür, was erzählbar und was unzumutbar ist. Die Begebenheit wäre eine beiläufige, sehr alltägliche, wenn sie sich nicht in einem KZ zutrüge, in das die Frau eines in dieser Zeit sehr bekannten KPD-Funktionärs für einige Jahre verbracht wird. Ihr kann nichts Gesetzwidriges nachgewiesen werden, aber einen Kommunisten geheiratet zu haben, der untergetaucht ist, macht sie ohne juristische Umstände zum Volksschädling. Sie wird sich viele Jahre später, die einzige Tochter ist glücklich unter der Haube, das Leben nehmen. Der Tochter erzählt sie aus dieser Zeit nur diese kleine Geschichte:

Sie sei dort, im Frauen-KZ Ravensbrück, beleidigt worden, jemand habe „Arschloch“ zu ihr gesagt. Daraufhin habe sie weinen müssen und einem Aufseher, der aus Bayern stammte, ihr Leid geklagt. Der oder die Soundso habe „Arschloch“ zu ihr gesagt. Der Aufseher habe nur gesagt, „was greina Sie do, Sie Oaschloch, Sie!“

Sie wollen uns schonen. In der Hölle, während mit den glühenden Zangen Schwerstarbeit, Hunger, Willkür, Prügel gefoltert wird, geschehen nebenbei auch straßenübliche Beleidigungen, die zu Tränen führen. Immerhin wird gesiezt, ein Hauch Komik kommt auf und so entsteht ein Döneken. Wir sollen lächeln, es war nicht so schlimm, man springt erst 20 Jahre danach vom Dach. (12.10.2021/12.03.2018)

Freie Bürger würden Parship wählen
Scheinbar über Nacht sind sie plötzlich da, sie stehen, lehnen, hängen an jeder Ecke, an Lampenmasten, auf grüner Wiese, sind geradezu überall, als ob sie den endgültigen Schwund von Tabak- und Alkoholwerbung mit einem Schlag wieder gut machen wollten. Es sind wieder Wahlen, die „kleinen“ Kommunalwahlen diesmal, und die bunte Plakatflut spricht zu uns für einige Wochen mal nicht als Konsumenten, sondern als Bürger, die sich erschrocken die Augen reiben: ja ist denn schon wieder Demokratie? Nichts sinnloser, als den Aufwand zu beklagen an Geld, Zeit und Material für diese farbenfrohe Notblüte eines politischen Organismus, den noch nicht mal jeder zweite mit einer Stimmabgabe zu unterstützen bereit ist, nichts aussichtloser, die leeren Parolen und Gesichter mit den unbekannten Namen reduziert sehen zu wollen. Denn ein Grundsatz gilt offenbar immer noch in der durchaus subtilster Methoden fähigen Werbe- und Marketingbranche: viel hilft viel, viel Sichtbarkeit, im Großen von Merkel über Söder zu Spahn, bringt viel Beliebtheit, und so wird die Hauptstraße in Eschborn gleich am ersten Tag von FDP-Plakaten flankiert als ob neuerdings für Leitpfosten die Passbildpflicht eingeführt wurde. Hier betretet und befahrt ihr wirtschaftsfreundliches Territorium, so die Signale, wo kostspielige grüne oder linke Zumutungen ortsfremd sind. Und damit alles so bleibt, liebe dankbaren Eschborner, wählt gefälligst die lächelnden Nasen der FDP, die euch mittels üppig sprudelnder Spendengelder wärmstens anempfohlen werden. Zumal diese Partei, einer der wenigen verschämt kleingedruckten Standortbestimmungen zufolge, den Vorteil hat, genau in der Mitte zu stehen, also der in Paris aufbewahrten physikalischen Urmitte am nächsten zu kommen, die ja die CDU, unter Merkel gefährlich nach links gerückt, längst aufgegeben hat. Wer will da nicht mitten im Leben in der Mitte der Gesellschaft sein, inmitten seiner Familie und mitten unter vielen gleichlautenden Plakaten in seinem Wohnort?

Hart rechte Parteien sucht man dagegen, wie zum Nachweis der cancel culture, zunächst vergebens, besonders im aktivistischen Frankfurt. Wobei sich selbst die AFD in der konservativen Mitte wähnt, da es ja rechtsaußen noch die NPD gibt. Deren Plakate wiederum tauchen urplötzlich in der oberhessischen Provinz, in Nidda auf, regelmäßig, wenn auch hoch oben aufgereiht an den Laternenmasten einer viel befahrenen Umgehungsstraße auf dem Weg zum alten Ausbildungsbetrieb. Ob da wohl der nette Neonazi mit Hand angelegt hat, der mir immer ossitümlich sprücheklopfend einen Kaffee servierte, bis ich ihm draufgekommen war und die Volksgemeinschaft aufkündigte?

Aber es gibt noch Alternativen zu diesem ungefilterten Parteienspam, der die Sehordner verstopft, immer wieder lugen Schönheit und Anmut oasengleich durch das wüste Allerlei von Signalfarbe und Parole. Junge, attraktive Menschen werben für „Parship“, eine geheimnisvolle Bewegung ganz ohne Kandidatennamen und Programm, wortlos beglaubigen, nein: erzwingen sie allein mit lächelndem Charme unser Vertrauen, unsere Sympathie. Nach den Superreichen, nach all den Berlusconis, Trumps, Erdogans, Putins, märchenhaft entrückt der niederen Korruption, wollen wir jetzt den traumhaft Schönen huldigen, denen alle Himmel offenstehen, díe sich aber für uns in die öden Niederungen der Kommunalpolitik herablassen, um selbst sie zu adeln und zu verzaubern. Es wäre also endlich an der Zeit, die Bürger frei über geeignete Kandidaten entscheiden zu lassen. Panaschieren und Kumulieren sind ja nette Spielereien, aber letztlich für Nerds gemacht, die komplexe Manuals durchlesen und bis 93 zählen können. Parship ist dagegen für alle da, mit maximalem Abstand zu politischen Inhalten, dem Parteiengezänk enthoben. Mehr Bürgernähe geht nicht. (23.02.2021)

Googeln nach den verschwundenen Freunden (1) – Wolfgang
Ach, Wolfgang. Du bist nicht nur verschwunden, verloren wie ein Regenschirm oder ein Jugendfreund, was noch die kleine Hoffnung am Leben lässt, sie mögen doch noch eines Tages wieder auftauchen. Du bist, ganz ohne Zweifel, tot. Als mir der zu einer ostdeutschen Universität abgewanderte Professor, dein einziger mir bekannte Kontakt und sicher deine letzte Bezugsperson, wie man so sagt, in einer Mail schrieb, du hättest dich umgebracht, war das keine Überraschung mehr. Es war folgerichtig, es konnte gar nicht anders ausgehen, und im Grunde wusste ich das.

Unser Kontakt war abgebrochen, nachdem ich von Konstanz, wo wir uns als Nachbarn kennengelernt hatten, ins umstürzend Neue und Fremde, in die oberhessische Provinz nach Nidda gezogen war, um dort nach längerem Zögern endlich ein ordentlicher Steinmetz zu werden. Das hast du missbilligt, ein praktischer Beruf war Fahnenflucht und schnöde Kapitulation vor den ökonomischen Zwängen, das Verschleudern intellektueller Begabung, die du in mir gesehen haben musst. Wir haben zwar unsere Witze gemacht wie der Plan, zusammen eine Würstchenbude aufzumachen, aber natürlich ohne jeden Hauch von Ernsthaftigkeit. Dazu warst du jenem mächtigen Orden, jenem die gemeinen Niederungen überstrahlenden Tempel des Geistes, der akademisch gesalbten und graduierten Wissenschaft zu sehr verfallen mit Haut und Haaren. Dein echtes Epitaph ist kein Stein, den ich für dich nicht machen konnte, weil ich nicht weiß, wo dein Grab ist. Dein Epitaph erscheint, wenn man deinen Namen googelt, über viele Jahre gespensterhaft unverändert. Es ist deine Dissertation von 1985 zum Doktor der Verwaltungswissenschaft, letzte Auflage von 2012, mit einem genretypisch sperrigen Titel, erhältlich unter anderem bei Amazon für 54,99 Euro und dort mittlerweile abgesackt auf den Bestsellerrang 5.310.236.

Kennengelernt hatten wir uns wie gesagt in Konstanz im „Falken“, einem zum privaten Studentenwohnheim umgewandelten alten Hotel mit breiten knarzenden Holztreppen und altersdunklen Dielenböden. Eines Tages, es muss wohl so um 1989 herum gewesen sein, klopfte es leise an der Tür meines Zimmers Nr. 3. Es gab keine Klingel, dafür immerhin einen riesigen Hotelschlüssel mit tennisballgroßem Holzanhänger. Vor mir auf dem Flur stand ein eher kleiner untersetzter Mann mit großem Kopf und Brille, korrekt gekleidet, darauf hast du immer Wert gelegt, der mich unverwandt mit einem großen Auge ansah, während sich das andere Freiheiten nahm. Am einprägsamsten war deine Stimme, eine leise, eindringliche, sanft-leidende Stimme, die, wenn du sie schon als Kind hattest, das Bild eines strammen Nazi-Sportlehrers heraufbeschwört, der dich, nur von der Stimme provoziert, mit Sonderschichten quält, worauf du beschließt, dich nie wieder sportlich zu betätigen. Ohne Körper, ohne Schweiß, ohne physische Aktivität gehst du tot, Wolfgang, diese Botschaft überlebender Klugscheißer kannst du jetzt naturgemäß nicht mehr hören.

Du sammeltest damals Unterschriften für eine Aufforderung an die Vermieterin Frau Müller, in den Zimmern Telefonanschlüsse zu installieren. Frau Müller, eine freundliche, sehr katholische ältere Dame, residierte im Erdgeschoss mit ihrer Schwester im rechten Seitentrakt, dem gegenüber, in der ehemaligen Hotelküche, ihr Neffe ein Geschäft für Kunstdrucke betrieb. Sie führte das Haus seit Jahrzehnten gleich, mit moderaten Mieten und minimalem Aufwand, ein mit Münzen betriebenes Wandtelefon im Eingangsbereich musste genügen in handyloser Zeit.

Du warst wohl schon damals, ohne dir zu nahe treten zu wollen, auf dem absteigenden Ast und hattest mir doch einiges voraus. Biologisch nur ein paar Jahre älter, schienst du mir an Reife und Erfahrung um Jahrzehnte weiter als ich. Die Universität, für mich ein Ort des Scheiterns, hattest du glänzend als Doktor der Verwaltungswissenschaft abgeschlossen, ein beharrlicher, analytischer Kopf, gern von deinen Doktorvätern in Anspruch genommen, mit fundiertem Wissen über Gesellschaft, Politik, Staat. Du hast die Verhältnisse analysiert und kritisiert, in denen jemand wie du keine Chance hat. Den existenziellen Sprung aus der selbstreferentiellen Schlinge um deinen Hals hast du nicht geschafft.

Damals bestand noch Hoffnung, deine Lebensgeister waren noch wach, und du nahmst die sehr kargen und anonymen Wohnverhältnisse im „Falken“ zum Anlass einer Art gewerkschaftlicher Protestaktion. Dein Verhältnis zur lieben alten Vermieterin, die du viel länger kanntest als ich, war zerrüttet, du sprachst geradezu hasserfüllt über sie, was mich schockierte. Hier war wohl dein dunkler Punkt, der destruktive und letztlich selbstzerstörende Moment in dir, die Versteinerung erfahrener Schmach, missglückter Beziehungen zu fast kindlichem Hass, den du als Druckausgleich kultivieren musstest. Das Verhältnis zu deinen Eltern hattest du abgebrochen, aus Gründen, über die du nie gesprochen hast, der Vater war für dich Unperson. Deine Freundin hatte mit dir vor Jahren Schluss gemacht, die „dumme Kuh“, und damit war das Thema durch. Diese Quelle der Frustration wolltest du absperren, um dir, so depressiv warst du noch nicht, eine andere, die sexuelle einzuhandeln. Sicher, du warst kein Adonis, aber Umschlagplätze für Liebe und Triebe sind ja überall, wo man unter Menschen ist. Und du hattest doch nicht nur sapiophilen Frauen etwas zu bieten: Humor, ein, wie man so sagt, sicheres Auftreten in der Öffentlichkeit, Verlässlichkeit. Und so etwas wie –  Anhänglichkeit, was bei Männerfreundschaften, die häufig auf Liefern oder Geliefertsein hinauslaufen, eher selten ist.

Deine Unterschriftenaktion war übrigens erfolgreich, Frau Müller und ihre Familie knickten ein, es wurden in allen Zimmern Anschlüsse verlegt, wovon viele Mieter und auch ich profitiert haben. Bevor du nach Bonn gezogen bist, waren wir noch ein oder zwei Jahre befreundete Nachbarn. Ich erinnere mich ganz gut an dein geräumiges Doppelzimmer, von einer riesigen Regalwand geteilt, geradezu weitläufig gegenüber meinem mit Bücherregalen und Musikanlage vollgestopften „chinesischen“ Zimmer, wie das eine Besucherin einmal nannte, wo eigentlich kein Gast hineinpasste. Bei dir haben wir anfangs viel über Mieterfragen gesprochen, zum Beispiel über die großen flinken Stubenkäfer, die plötzlich aufgetaucht waren, Kakerlaken, wie ich nach Wochen herausfand. Sie pflegte ich, zimperlich im Totschlagen, in übergestülpten Einmachgläsern einzukerkern und auszutrocknen, während du mir die technisch avanciertere Methode des Absaugens mit dem Staubsauger empfahlst.

Dann zogst du nach Bonn ans Rheinufer, von der großen Kleinstadt am idyllischen See zur kleinen Großstadt, ja Hauptstadt, an der geschäftigen Wasserstraße, oder eher ein 10-spuriger Highway, der ein paar Jahre später zum katastrophalen Hochwasser anschwoll. Bonn hattest du mit Bedacht gewählt, es war Sitz von Verwaltung, Parlament, hunderten Organisationen und potentiellen Arbeitgebern aller Art. Es wurde für dich zur Todesfalle. Von den zahlreichen Sargnägeln, und fast immer bedarf es ja vieler Faktoren, um ein mühsam errichtetes Leben niederzureißen, ist Bonn sicher ein eher kleinerer gewesen. Aber diese Stadt, in der du, wenn ich mich recht entsinne, von früher her ein oder zwei Bekannte hattest, die sich dann durch räumliche Nähe noch mehr entfernten, in dieser anonymen Neubauwohnung, die du, mit Ausnahme vielleicht des Arbeitszimmers, recht unpersönlich eingerichtet hast mit einem alles dominierenden, die lange Fensterfront des Wohnzimmers bedeckenden Aluminium-Rollo, das Sonne, Lärm und Menschen fernhalten sollte – das war kein Ort der Lebendigkeit, des Aufbruchs, des Experiments, es war der Ort deines Sterbens.

Du warst schon in Konstanz längere Zeit arbeitslos gewesen, immerhin aber direkt nach dem Studium für zwei Jahre in irgendein Büro vermittelt worden, um anschließend unbegrenzt Arbeitslosenhilfe zu beziehen in einer zwar bescheidenen, aber auskömmlichen Höhe. Hier haben wir eine Hauptursache deines Absturzes auf dem Tisch, es ist der Moment, wenn der obduzierende Pathologe mit einem Pfiff auf den Lippen auf den Auslöser des Organversagens stößt. Im Grunde gehörtest du zu den Pionieren des bedingungslosen Grundeinkommens, denn das war faktisch die Arbeitslosenhilfe in deinem Fall, damals in der grauen Vor-Hartz-Ära, aber du verlorst auf Staatskosten immer mehr den Boden unter den Füßen. Einmal im Jahr, so pflegtest du fröhlich, wie einen guten Witz zu erzählen, wurdest du beim Arbeitsamt vorstellig, der zuständige Sachbearbeiter sagte, er könne ja wohl wenig für dich tun, und das Spielchen wiederholte sich dann jedes Jahr in gleicher Weise. Beratung, Mobilisierung, Fristsetzungen, Implementierung eines geregelten Tagesablaufs, womöglich Therapie, Umschulung, das hätte anfangs vielleicht Erfolg gehabt. Später als Langzeitarbeitsloser sanken deine objektiven Chancen auf dem Arbeitsmarkt wie deine innere Stabilität und Resilienz gegen Isolation und Perspektivlosigkeit gegen Null. Nur kurz war deine Freude, als ich dir über meinen Patenonkel ein Gespräch mit einem Personaler vermittelt hatte. Es kam nichts dabei heraus, aber du konntest in einem höchst seltenen Moment mit einem kompetenten Menschen über deine Lage sprechen. Alle vagen Ideen, irgendwo beruflich Fuß zu fassen, verpufften Stück für Stück mit grausamer Zwanghaftigkeit. Der Professor, für den du bis fast zum Schluss wissenschaftliche Beiträge verfasst hast, erwähnte noch im Abgesang deine letzte Hoffnung, die Fortsetzung deiner akademischen Laufbahn in Form einer Habilitation, aber die wäre „natürlich chancenlos“ gewesen. Du hast dich ins Nichts, zum Tode qualifiziert, lieber Wolfgang, und deine Lehrer sprechen dein Requiem.

Wir sind noch nicht am Ende. Bevor der Deckel zuklappt, die Asche davonweht, möchte ich dich noch rühmen. Deine Offenheit zum Beispiel, der Anspruch, erst nach sorgfältiger Prüfung eine Meinung zu bilden mit Lust an der Abweichung zum dominanten Trend. In der Diskussion warst du eher der zögernde, wägende Wissenschaftler, ohne ideologische Panzerung. Als Anfang der 90er im zweiten Golfkrieg, du warst wohl frisch in Bonn angekommen, überall die Bettlaken aus den Fenstern hingen mit den Parolen „Kein Blut für Öl“ oder einfach „NEIN“, da hieß dein alternativer Textvorschlag „JEIN“. Das bist du, Wolfgang, Glanz und Elend des Dr. Wolfgang B., geboren in einer badischen Kleinstadt, von dem ich nicht weiß, ob er sein 40. Lebensjahr erreicht hat, in einem einzigen, skeptischen, ironischen und ein bisschen kraftlosen Wörtchen zusammengefasst.

Und durch dich lernte ich das Computerspielen kennen und schätzen, es war der Einstieg und gleich wieder Ausstieg in und aus einem Faszinosum mit Suchtpotential. Es ging nur um albernes Bananenwerfen auf Gorillas, ungelenke King-Kongs, die auf Wolkenkratzern thronten und bei Treffern explodierten oder sich überschwänglich feierten. Aber die Mischung von einstellbaren und zufälligen Parametern wie Entfernung, Windrichtung und -stärke kitzelten im Verbund mit der regressiven Bildersprache den sportlichen Ehrgeiz heraus, bei mir wohl mehr als bei dir, sodass es mich an den Autobahnkeller der Kindheit erinnerte, wo mein älterer Bruder für die Planung und Reparatur und ich für destruktive Späße wie Rennenfahren zuständig war. Gutmütig spieltest du ein paar Runden, dann war es auch wieder gut.

Und du warst ein toller Briefeschreiber, immer mit der Schreibmaschine, postwendend, ausführlich und ins Detail gehend, ungeduldig auf Antwort dringend. Ich konnte dich wohl ein wenig aufmuntern mit ein paar witzigen Formulierungen, die du dir nicht gestattet hast. In Erinnerung ist mir zum Beispiel eine Postkarte, die ich aus vorgeblicher Sparsamkeit bis zum letzten Fleck, dicht um die Briefmarke herum vollschrieb, die zu deiner Freude vom rücksichtsvollen Postbeamten ungestempelt blieb. Ich war dir nicht egal, du fordertest Freundschaft ein, du fühltest dich einsam, warst wehrlos gegen die Furien der Ichhaft, und als es mich fortriss zu einem handwerklichen Beruf, zu einer neuen Frau, in eine neue Stadt, bliebst du auf der Strecke.

Oder anders gesagt, ich ließ dich im Stich. Du machtest enttäuschte Wortspiele, ich sei in Nidda nie da. Schon einmal warst du in Bonn knapp am Tode vorbeigeschrammt, hattest wohl im Alkohol und einer nahen Kneipe etwas Trost gefunden und spucktest eines Tages in Mengen Himbeersaft, der sich als Blut entpuppte. Es war aber dann nicht der schwache Körper, sondern dein Kopf mitsamt dem exzellent geschulten Verstand, der wie auf einer hohen Leiter das fragile Gleichgewicht verlor und zu Boden strebte, zum endgültigen Aufschlag und Ende des Lebensflugs. Du sprachst in Telefonaten mehrfach etwas verworren vom Klopfen der Heizung, das dich störte. Handwerker hätten nichts gefunden, sie taugten eben nichts. Die Situation hat nichts Erratisches, nur medizinisch oder psychiatrisch Geschulten Zugängliches, jemand steht in der Dusche und rutscht aus. Wenn keiner da ist, ihn aufzufangen, bricht er sich das Genick. Wer steht schon neben der Dusche, in diesem entscheidenden Moment? Auch Verrücktwerden gehört doch zum allgemeinen Lebensrisiko, oder etwa nicht? Ich stand dir nicht zur Seite, ich hatte beschlossen, nicht mehr anzurufen. Dein Professor empfahl dir irgendwann, einen Psychiater aufzusuchen, was du auch folgsam machtest, ein letztes papierdünnes Fädchen der Hoffnung. Die Diagnose kam und du zeigtest den Psychiater wegen Beleidigung an. Dann, und meine Einfühlungskräfte prallen zurück vor diesem letzten, unfassbaren Zwischenraum, hast du dein Leben beendet. Wie und wo, das interessiert mich nicht, das bleibt deine Privatsache.

Vielleicht gibt es irgendwo eine menschenfreundliche Sekte, deren Anhänger daran glauben, dass jeder Mensch zwei Leben hat. Dass nach dem ersten ungelenken, wirren, missratenen Versuch ein zweiter Wurf glücken kann. Als Kinder Zweck statt Mittel, Sein statt Haben, werden wir in Ruhe, ohne Gängelei und Angst erwachsen und entwickeln unsere Eigenart, eine besondere leuchtende selbstbewusste Farbe unter tausend anderen. In diesem zweiten Leben, das wir Agnostiker nicht gänzlich ausschließen können, werden wir uns, Wolfgang, als Freunde wiedersehen. (12.05.2020)

Handwerkerlitanei, frisch gezapft
Beim Schreiner, um eine Regalplatte zu kürzen. Schöne Werkstatt, wie in den Siebzigern eingefroren. Geräumig und aufgeräumt. Nur kein Neid hochkommen lassen, wofür der Meister gleich sorgen wird. Wieder zu Hause das starke Gefühl, dass wir Handwerker die geübtesten Klageprofis, Litaneiprofis sind. Politiker dürfen nicht klagen, sondern müssen Stärke und Zuversicht ausstrahlen, Helferberufe ebenso. Im Büro sind Chef und Kolleginnen Anlass für eindrucksvolle Klagen, die Welt der physischen Gegenstände aber selten. Beim Handwerker kommt alles zusammen, die Tücke des Objekts, die auch der größte Meister nicht eliminieren kann, die Kunden, die Mitarbeiter. Und weit verbreitet ist unter uns der Typ „ehrliche Haut“, Normalo unter normalen Menschen auf Augenhöhe, ohne Fachchinesisch und Blatt vorm Mund.

Bis März war ich voll ausgelastet, hatte jeden Tag bis zum Anschlag zu tun. Normal ist ja im Winter Flaute, Dezember, Januar, bis in den Februar, dieses Jahr nicht. Ab April gar nix mehr, die zwei Gesellen sind in Kurzarbeit. Soforthilfe? Hab ich beantragt, aber da muss man Nachweise beibringen, Lohnbescheinigungen, ein Haufen Zeug, das verzögert sich, wenn die überhaupt zahlen. Habe 11000 Euro monatliche Kosten. Bin ja hier nur zur Miete, seit 40 Jahren, hab kein Eigentum, von dem ich leben könnte. Die Leute kaufen nur noch bei Ikea, das landet nach zwei Jahren alles auf dem Schrott. Gestern war ich beim Kunden wegen Unterkonstruktion für einen neuen Herd. Stellt sich heraus, der Elektriker hat den Anschluss falsch gelegt, meine Unterkonstruktion passt nicht mehr. Muss also warten, der kommt erst wieder in zwei Wochen. Bin jetzt 66, kann den Betrieb nicht übergeben an den Gesellen, der ist 52. Der könnte das machen, aber dann müsste eine neue Absauganlage mit Filter her, außerdem Schallschutzmaßnahmen, kostet 80 Tausend. Hier ist ja Wohngebiet, Gewerbe ist nur bei Altbetrieben erlaubt. Früher waren mal hier 5 Schreinereien, alle weg jetzt bis auf mich. Und jetzt noch Corona.

Der Mann klagt gut. 4 Euro Trinkgeld. (28.04.2020)

Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt.“
(Der Text wurde verfasst anlässlich der Zertifizierungsfeier zum Abschluss des Ausbildungsprogramms SOCIUS zum ehrenamtlichen Mentor der Migrations- und Flüchtlingsberatung des Evangelischen Regionalverbands Frankfurt)

Dieses Zitat aus der Matthäus-Passion steht, vielen wird es bekannt sein, auf einem monumentalen Obelisken des Künstlers Olu Oguibe, aus- und aufgestellt auf der letzten Documenta in Kassel. Der dreifache Wechsel des Standorts, erst Königsplatz, dann Bauhof, schließlich Treppenstraße, könnte selbst an ein Flüchtlingsschicksal gemahnen, soll aber wie die politische Diskussion drumherum (die AFD sprach in subtiler Absetzung vom Nazijargon von „ideologisierender und entstellender Kunst“) hier nicht weiter kommentiert werden. Dass es sich bei dem Obelisken um ein bahnbrechend neuartiges Kunstwerk handelt, wird nicht einmal der Schöpfer behaupten. Es geht ihm um ein monumentales Denkmal für die Menschlichkeit, wo wir doch bisher eher Monumente für Nationen, für Kriegsschlachten und siegreiche Helden kennen. Die Provokation besteht darin, dass Anständigkeit, in Politik übersetzt ein menschliches Asylrecht, mit dem Grundtext des sogenannten westlichen Abendlands, der Bibel, verknüpft wird, die gerade auch den Kämpfern gegen Überfremdung unantastbar gilt.

So ein Ding muss also jedem rechtschaffenden Rechtspopulisten ein Dorn im Auge sein, wobei seine kreuzbrave Gestaltung, ein schlichter Obelisk eben, ganz ohne Fett und Filz, das gesunde Volksempfinden keineswegs belästigt. Dafür muss dann eben der andere Klassiker des Moderne-Kunst-Bashings herhalten, die angeblich irren Kosten für Material oder Gage, die im Fußball und Showbusiness natürlich gerne achselzuckend dem freien Markt überlassen werden. Ein Enthüllungsjournalist muss her, der darauf abzielt, Menschenfreundlichkeit der Heuchelei zu überführen. Ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom März 2018 entlarvt denn auch den Künstler Oguibe als geschickten Zocker um eine weit überhöhte Gage, eine Million Euro. Natürlich ist das viel zu viel Geld für das, was im Artikel „Betonattrappe eines Obelisken“ heißt. Ein Obelisk hat aus wertigem deutschen Granit zu bestehen und muss dem Vaterland oder wenigstens unseren gefallenen Helden aus beiden Weltkriegen gewidmet sein. Die in den Fünfziger- und Sechziger-Jahren beliebten Grabmale aus Kunststein sind demnach auch als minderwertige Betonattrappen anzusehen, die dummerweise kein Laie von Naturstein unterscheiden kann. Für einen 16 m hohen Grabstein aus beliebigem Material würde ein Steinmetz inklusive Fundament und Inschrift locker den Gegenwert eines Wagens der Oberklasse kalkulieren und da ist die Aura des singulären überregional beachteten Kunstobjekts nicht enthalten. Die Kritik am seinen Marktwert aushandelnden Künstler, der anders als der Starkicker arm bleiben soll, wenn er Menschlichkeit anmahnt, sinnt im Grunde auf Bestrafung des Provokateurs. Sie beweist dessen Erfolg.

Lassen wir abseits von Spiegelfechtereien nochmal die Botschaft zu Wort kommen, die jetzt viersprachig in großen goldenen Lettern auf die Treppenstraße in Kassel herableuchtet. Sie hat am bündigsten ein der Religion eher Fernstehender zusammengefasst: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ – Erich Kästner.

Und was ist das Gute? Ausländer, Menschen mit Migrationshintergrund auszugrenzen oder gar rauszuschmeißen? Was gut ist, ist seit mindestens 2000 Jahren bekannt, es ist rund um den Globus unstrittig. „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt.“ (27.02./21.04.2020)

Friedhofsgeschichten (3) – Social distancing
Lehrmann ist zu früh auf dem kleinen Friedhof im Frankfurter Westen, von der Kundin noch nichts zu sehen. Er freut sich schon auf ein wenig Abwechslung an diesem makellosen Frühlingstag, dessen Licht unter blauer Leuchtfarbe jedes Detail der Dinge sichtbar macht. Es ist noch genügend Zeit, die drei Plastikkanister, die jetzt immer dabei sind, an der Wasserstelle hinter dem Eingang aufzufüllen. Dabei hat sich die Technik bewährt, den Kanister auf die Wasseroberfläche zu stellen, das Wasser mit scharfem zielgenauen Strahl aus dem Metallrohr einschießen zu lassen und wie ein moderner Archimedes das Gefäß beim Absinken zu beobachten, bis es, gefüllt und schwer, mit einem Ruck herausgezogen wird.

Bis in den Mittag hinein hat Lehrmann ein paar Kilometer weiter auf dem winzigen jüdischen Friedhof gearbeitet, wo es kein Wasser gibt. Wozu auch, das Gras und die Bäume zwischen den Grabmalen aus Sandstein und Granit kommen ja mit dem Regen aus. Stein, Gras, Bäume, das passt zu einem auf Ewigkeit angelegten Ort, während Blumen und Beete Elemente eines schon fast hektisch zu nennenden Umschlags von immer neuen Bestatteten sind. Bis auf das kurze Dienstleistungsgespräch mit der Verkäuferin in der kleinen Bäckerei auf der Leipziger, wo er sich zwei Stückchen geholt hat, und einem Telefonat mit einer Kundin, das ihn ohne Bürounterlagen etwas verwirrt zurücklässt, ist Lehrmann nur noch von einem etwa 11-jährigen Jungen angesprochen worden, der ihn vom benachbarten Schulhof aus in seine routinerte Kabbelei mit seinem Spielkameraden verwickeln möchte.

Jetzt also, zum Abschluss des Arbeitstags, noch Wasser auffüllen, leere Betonsäcke und ausgestochene Grasnarbe in die Container entsorgen und ein bisschen cash kassieren. Lehrmann fährt langsam in seinem Klein-Lkw zum Grab an der Mauer, wo er vor Tagen den Liegestein aufgerichtet hat. Ob wohl nur die alte Dame kommt, die ihn vor zwei Wochen angesprochen und dann fast über den ganzen Friedhof zu ihrem Problemgrab geführt hat? Wie immer erinnert er sich weniger an die konkrete Person, die er auf der Straße nicht wiedererkennen würde, als den Typus, der ihm an sich sympathisch ist, eine burschikose 70-plus-jährige von robuster Alltagstauglichkeit und gleich auf den Punkt kommend, die seinen moderaten Preis ohne Feilschen akzeptiert hat. Oder ist auch die Tochter da, Frau Decker, ohne die gar nichts geht in Sachen moderner Kommunikation über Handy und Whatsapp, und die Lehrmann dann auch den Auftrag schriftlich IN GROSSBUCHSTABEN erteilt hat? Wie sieht eigentlich jemand aus, der Kurznachrichten grundsätzlich in Großbuchstaben verfasst? Manchmal grübelt Lehrmann ganz gerne über solche vollkommen sinnfreien Fragen. Er vermutet das Motiv irgendwo zwischen persönlichem Markenzeichen und schlauer Vermeidung jeglicher Fallstricke bei Groß- und Kleinschreibung, in die allerdings die meisten anderen ohne Scheu, ja geradezu lustvoll hineinrasseln.

Er kann sich gleich selbst ein Bild machen, denn eine kernige Frau mittleren Alters kommt auf ihn zu, das Fahrrad vorschriftsmäßig schiebend.

– Herr Lehrmann?! Guten Morgen!

Sie streckt ihm sofort ihre Hand entgegen und, sei es wegen ihrer einschüchternden Alles-im-Griff-Aura, sei es wegen seiner unprofessionellen Weichheit Kunden gegenüber, die noch nicht bezahlt haben, nach unmerklichem Zögern greift er zu. Gestern einem Kunden bei der Auslieferung von Fensterbänken die Hand gegeben, heute schon wieder, isch krieg Corona, denkt Lehrmann nur halb belustigt. Frau Decker lobt jetzt seine schlichte Arbeit über den grünen Klee und schimpft dann nahtlos anknüpfend über ihre Mutter.

– Is doch wieder typisch von ihr, die sind vor ner Viertelstunde losgegangen und immer noch nicht da, wo die sich wieder rumtreibt –

Und so weiter, offenbar ein angespanntes Mutter-Tochter-Verhältnis, was Lehrmann einen kleinen Stich versetzt. Oder auch nur stört, die Harmonie der Menschen und der Dinge ist sinnlos gestört, Schimpfen außer von der Warte des Schimpfenden aus, erzeugt Stress. Lehrmann versucht Konversation zu machen, probiert es mit einem Kompliment an die Mutter, sie sei doch noch gut zu Fuß, was aber Frau Decker kategorisch bestreitet. Übrigens habe sie gar kein Geld dabei, streut sie ein, was die Unpünktlichkeit der Mutter noch bitterer macht und die Loyalität zu Lehrmann erhöht. Endlich der erlösende Ausruf:

– Da kommen sie!

und richtig, zwei Damen biegen um die Ecke an der Trauerhalle und nähern sich in durchaus flottem Tempo. Die eine mit auffallend langen Haaren und daher von Weitem deutlich jünger aussehend hält sich jetzt abseits, Frau Bormann steuert aber an der Tochter vorbei auf Lehrmann zu mit ausgestreckter Hand, die dieser natürlich sofort wehrlos ergreift.

– Aber Mutti, man gibt doch keine Hand!

erschallt es jetzt empört von der anderen Seite her, und Lehrmann beschließt, seiner Frau nichts davon zu erzählen, um nicht wieder die Litanei der drei überstandenen Lungenentzündungen loszubrechen, sondern lieber die Sache wie Poes entwendeten Brief in der Öffentlichkeit zu verstecken. (14.04.2020)

Drosten unser
Die Kirchen sind zu, aber Gebete werden natürlich noch gesprochen. Sie passen sich nur etwas den Zeitläufen an:

Drosten unser in TV und Twitter
Geheiligt werde dein Titel.
Deine Prognose komme,
Dein Wille geschehe,
wie in vitro, so auf Erden.
Unsere tägliche Infiziertenzahl gib uns heute,
und vergib uns unsere Schludrigkeit
wie auch wir vergeben den distanzlos Schludrigen (Arschlöcher!).
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Virus.
Denn dein ist das Labor
und die Daten und DAS SERUM
in virusbefreiter Ewigkeit. Amen.
(07.04.2020)

Nebbich
Vor einiger Zeit wurde eine von der Idee her einleuchtende und verdienstvolle Aktion eines linksliberal-bunten Medienverbunds unter Federführung von Zeit Online gestartet, „Deutschland spricht“. Die Idee war, dass Leute mit ganz unterschiedlichen Meinungen miteinander ins Gespräch kommen, Verständnis für die Gegenposition entwickeln und ihre jeweilige Meinungsfilterblase durchlässiger machen. Auch ich hatte mich aus einer Laune heraus dafür gemeldet, doch der Gesprächspartner, ein Business Development Manager im IT-Bereich, nach Eigenbeschreibung erkennbar an seiner „lustigen und aufgeweckten Art“, tauchte ab und Deutschland schwieg. Möglicherweise hätte ich als Beruf statt der nach staubigem Knäckebrot schmeckenden Bezeichnung „Steinmetz“ ein saftiges „Executive Director Natural Stone Industry“ angeben sollen, um den plötzlichen lethargischen Schub zu verhindern. Wie dem auch sei, sich mit einem unbekannten ITler über ein politisches Thema zu streiten, vorgemerkt war übrigens Putins Russland, mit dem der Westen nicht fair umgehe, wäre ein Plausch unter Gleichgesinnten gewesen gegenüber einem Treffen mit einer Person, die mir das Interesse an Mode nahebringen wollte.

Ich gestehe, Mode geht nicht an mich. Wenn Hosen, Hemden, Pullover knapp werden, muss halt etwas Neues gekauft werden und die alten mit Flecken oder Löchern wandern zu den Arbeitsklamotten. Bei Frauen sieht das bekanntlich anders aus, meine zum Beispiel behauptet, im Büro mit den Kolleginnen mithalten zu müssen, es dürfe nicht zu „billig“ aussehen. Da ist aber doch auch Spaß am eleganten Schnitt, am hochwertigen Material dabei, wohlig verstärkt vom Stolz, sich etwas leisten zu können, wenn sie nach verlängerter Einkaufstour mit einer Bluse oder einem Schuhpaar mehr zurückkehrt als morgens noch geplant. Dass Kleider Leute machen, weiß freilich jeder, der schon mal in zerrissener Arbeitshose oder im Smoking respektive Abendgarderobe über die Gasse gelaufen ist. Das Luxussegment von der Haute Couture bis Prêt-à-porter, seit Jahrhunderten von Pariser Modemachern dominiert, sorgt schon rein preislich für Exklusivität, die Chefdesigner kreieren riesige Gewinne mit traditionsreichen Marken, den modernen Idolen von Konsumenten und Investoren, und arbeiten am berauschendsten Triumph, den unsere Zeit zu bieten hat, selbst eine zu werden. Der größte von allen, glaubt man den Nachrufen im gesamten Blätter- und Byteswald, war ein Hamburger, der nur mit hanseatischer Disziplin und deutschem Ingenium, ganz ohne Pickelhaube und Panzer Paris erobert hat. Versuchen wir doch mal, dem Geheimnis dieses „Mode-Giganten“ (Focus), dieses „grandiosen Einzelgängers“, „seltsamen und großartigen, rätselhaften und wunderbaren Menschen“ (Spiegel), ein wenig nachzuspüren.

Da passt es gut, dass mir zufällig die Frankfurter Sonntagszeitung ins Haus flattert, in der unter dem wuchtigen Label „Leben“ der zuständige Mode-Redakteur Alfons Kaiser das Wort ergreift, um dem berühmten Ablebenden und jäh ins Leben Gerissenen zu huldigen. Die Überschrift „Meine Momente mit Karl“ hätte vielleicht von das Genialisch-Zarte noch stärker betonenden „Moments Karleaux“ ersetzt werden können, aber so etwas ist Geschmackssache. Aber wie war denn nun die erste Begegnung des Zeitungsmanns mit IHM?

Im Februar 2000 bei Fendi in Mailand.

Fendi? Dieser russische Billig-Discounter war schon so früh in Italien? Egal, es drängeln sich unendlich viele Menschen um IHN und unser Autor wartet geduldig. Da geschieht etwas Unerwartetes, jemand stößt den Meister im Gedränge an, etwa ein journalistischer Trick?

… (ich war es nicht!)

beruhigt uns etwas neckisch unser Zeitzeuge, ist er noch auf Augenhöhe des historischen Geschehens? ER schüttet sich jedenfalls

… sein Glas Cola (damals noch nicht light) über den Ärmel. Ich reiche ihm schnell ein Tempo …

aha, wir sind also in der Wellnesswelt der Marken wie in „Faserland“ und „American Psycho“, wo übrigens Konkurrent Yves Saint Laurent laut Reddit viermal genannt wird, KL aber geradezu rufschädigend kein einziges Mal, ein Makelchen auf der sonst perfekten Tweed-Weste des Giganten. Es entspinnt sich ein Gespräch zwischen den beiden und KL haut gleich mal einen seiner tollkühnen Sprüche raus:

Ich spiele mit Farben wie Kinder mit Spielzeug.

Eine journalistische Goldgrube tut sich hier auf, unserem Berichterstatter ist sofort klar,

dass er ein toller Interviewpartner ist, schnell und originell, straight und klar, immer für gute Zitate zu haben.

Zum Beispiel auch für dieses (laut Spiegel):

Die Kindheit war die größte Zeitverschwendung meines Lebens.

Kann man so sehen, ich neige aber eher zur gegenteiligen Überzeugung, dass eine kühl-sterile Kindheit als stinkreicher Fabrikantensohn zwar die Basis legt, aus hundert fünfhundert Millionen zu machen, dieser fürchterlichen Erwachsenentauglichkeit aber nur eine Businesswelt von Prominenz und Kitsch mitsamt ihrer Redakteure Wert zu verleihen imstande ist. Sie lieben ihn und drücken ihn an unser Herz, weil nur ein „Illusionskünstler“ der Modebranche ihr Geheimnis so nonchalant ausplaudern kann, wie`s Geschäft, beispielsweise die Auto-, Pharma-, Tabakindustrie und eine klick- und schlagzeilengetriebene Presse halt funktioniert:

Wir können heute dies sagen und morgen das Gegenteil. Das ist doch total egal. Die Realität ist genau das, was ich versuche, zu vermeiden. Wir verkaufen doch alle nur Wind. Was ich sage, ist nie länger gültig als sechs Monate.

Nur leider sagte er dies dem Spiegel, nicht Alfons Kaiser, der ihn immerhin fürs

„Alphabet“ hier in der Sonntagszeitung

also von A wie Armani über R wie Rolex zu V wie Vuitton befragte? Nicht ganz, es waren auch drögere Stichworte dabei, wobei ER aber den Erwartungen voll gerecht wurde, denn

er ratterte die Antworten so schnell herunter, dass das Tonband kaum mitkam.

Wem fällt hier nicht die herrliche Mutter-Anekdote ein, in der sie IHM sagt, er solle schneller reden, damit sie seinen Stuss nicht länger ertragen muss? Falsche Verzärtelung führt nur zu späteren Versagern, die ihre Kindheit nicht für Zeitverschwendung halten. Jedenfalls ist Alfons Kaiser begeistert:

Jedes Wort ein Treffer, jeder Satz eine Sentenz. Deutschland? „Ein Land, gegen das ich nichts habe.“

Eine Sentenz von abgründiger Oberflächlichkeit, wäre Heine nur schon darauf gekommen. Etwas haben kann man im Grunde auch nur gegen Flüchtlinge, von denen „Millionen der schlimmsten Feinde der Juden“, also auch der Eigentümer von Chanel ins Land geströmt sind und nur wenige Lagerfeld-Mode kaufen. Aber weiter:

Omnipräsenz? „Kann ich schlecht beurteilen. Aber wenn man schon auf der Welt ist, sollte man auch omnipräsent sein.“

Hier spricht die Marke. Wenn man schon mal eine ist, sollte sie auch allgegenwärtig und teuer sein.

Zukunft? „Ist die Zeit, die übrig bleibt.“

Oh, hanseatisch-gelassene, nüchtern-verknappt-haikueske Wortskulptur, gemeißelte! Hier scheint der sensible Wortmetz durch, der verkannt gebliebene belesene Intellektuelle, der gerne ausgewählte Gäste wie Alfons Kaiser in seiner Pariser Buchhandlung

um eine Zwischenwand ins Studio führte. Wow! Was für ein Effekt! In dem etwa sieben Meter hohen riesigen Raum sind an zwei Seiten bis zur Decke Regale. Die meisten Bücher liegen. „So muss ich den Kopf nicht drehen, wenn ich die Titel auf dem Buchrücken lese.“

Das Foto ist berühmt und weitverbreitet, der monochrome KL vor seiner Bibliothek, in der sich querliegende Bücher zu riesigen Türmen stapeln. Ein klassischer Fall von form follows function, das Auge erfasst ohne Verrenkung des Halses den Titel in fünf Metern Höhe, womöglich zuunterst im Stapel, ein Griff – und ratzfatz hält man es in Händen. Da nimmt es sich schon fast nicht mehr als Wunder aus, dass ER sie ALLE gelesen hat. Als Zeugen bietet der Spiegel, dessen Nachruf an Ehrfurcht und Staunen Alfons Kaiser locker das Wasser reichen kann, den Verleger Steidl auf, der mit niederen Geistern wie Beuys und Günter Grass zusammengearbeitet hat und bestätigt, dass KL auch als Intellektueller der Größte, der Belesenste war:

„Ich bin lange misstrauisch gewesen, ob er in die Bücher jemals reinguckt“, sagt Steidl. „Dann habe ich irgendwann mal ein x-beliebiges Buch aus dem Regal genommen und einen Small Talk angefangen. Er konnte mir den ganzen Inhalt wiedergeben.

Ein Illusionskünstler eben, ein Magier, der dir eine x-beliebige Karte, die du aus einem Stapel ziehst, exakt benennen kann. Aber es kommt noch doller:

Einmal schickte ihm Lagerfeld ein englischsprachiges Buch über die Schwierigkeit, Rilke ins Englische zu übersetzen. 700, vielleicht auch 800 Seiten dick. Steidl las ein paar Seiten und gab auf. Lagerfeld rief mehrmals an, was denn nun sei mit dem Buch. Wenn man zusammen Bücher machen wolle, dann müsse Steidl ihm auf Augenhöhe begegnen. „Er konnte giftig werden.“ Steidl las fortan alle Bücher, die Lagerfeld ihm schickte.

Brav, Steidl, so kommst du auf Augenhöhe. Statt dem Giganten das Missverständnis auszureden, Rilke sei die Premiummarke unter den Dichtern, nur weil er sich von chanelsüchtigen Adelsfräulein hat durchfüttern lassen, statt ein fett überflüssiges Buch, die klassische unlesbare Germanistendruckmasse, in die Tonne zu treten, knickt er ein, der Steidl, eine Marke höchstens mittlerer Güte. Obwohl, in Englisch, das hat was. Englisch ist ja dem Frankophilen das Französisch des Normaldeutschen, ein Hauch verrucht-exquisiten Dandytums, weh-teuren Parfums, wie… Na, lassen wir das. Wo haben wir Alfons Kaiser verlassen? Ach ja, er wollte uns erzählen, worüber der Maestro am liebsten redete:

Am liebsten redete er in den letzten Jahren über Choupette. Dann zog er sein iPhone

noch gar nicht in der American-Psycho-Statistik erfasst –

aus der Tasche, schob die Brille hoch in die Stirn und suchte nach Bildern von seiner Birma-Katze, die zu Hause auf ihn wartete, von zwei Kammerzofen umsorgt.

Es ist ein Naturgesetz, selbst der große KL kommt nicht dagegen an. Milliardäre sind einsame, asoziale Idioten, denen das Geld das Hirn zermatscht hat, und die nur einem edlen kleinen Rassehündchen, einem Rassekätzchen wirklich vertrauen und Liebe schenken. Aber halt, das ist ungerecht, denn

Am zweitliebsten redete er über seinen Patensohn Hudson, den heute elf Jahre alten Sohn des amerikanischen Models Brad Kroenig.

Die Reihenfolge ist etwas irritierend, aber dennoch nehme ich alles wieder zurück. Ein menschlicher Patensohn! Was man da alles erzählen kann:

Einmal erzählte er beim Mittagessen, wie Hudson, gerade mal neun Jahre alt, eine besondere Louis-Vuitton-Tasche bekommen habe.

In gleichen Alter habe ich meinen Bruder zu Weihnachten mit einer Packung Büroklammern, einem gebrauchten Ratzefummel und einem neuwertigen Bleistift in einem wirklich hübschen Kästchen beschenkt, wehmütige Erinnerung … Sorry, und weiter?

Als ein Mann den Kleinen in New York im Aufzug fragte, woher er denn diese tolle Tasche habe, sagte Hudson: „Man muss die richtigen Leute kennen.“

Schnodderschnauze wie ein Großer. Wer sagt denn, dass Kindheit Zeitverschwendung ist, wenn hier das existenziell Wichtigste in Fleisch und Blut übergeht. Dieser kecke Bursche wird niemals ohne Vuitton-Tasche durchs Leben gehen müssen. Aber er hat noch mehr zu bieten:

Hudson sollte bei einer Chanel-Schau neben Anna Wintour sitzen, der Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, weil sein Vater als Model eingesetzt war. Und was sagt der Kleine zur mächtigsten Frau der Mode?

Wir halten den Atem an. „Tante“? „Du stinkst nach Leiche“? Es kommt wie immer noch doller:

„Ich würde lieber neben Pharell sitzen.“ (Rap-Star Pharell Williams musste neben seiner Frau sitzen.)

Der ist ja zum Weglachen, denk ich mir, und siehe da, die Welt des Modezaren hat auch mich unwiderstehlich aufgesogen, ich denke und fühle schon wie sie, denn leicht benommen lese ich weiter:

Über solche Sprüche seines kleinen Ebenbilds konnte sich Lagerfeld wunderbar amüsieren: „Der ist zum Weglachen!“

Ach, man könnte jetzt ewig weiterschwelgen in so wunderbaren Anekdoten wie der, dass Katy Perry, die er doch tatsächlich in seiner ihm eigenen herrlichen Gemeinheit „Lady Gaga für Arme“ genannt hatte, wegen ihm im „Maison du Caviar“ sehr lange auf ein Bier warten musste, dass er wirklich in Leinenbettwäsche aus dem 19. Jahrhundert schlief und jeden Tag nagelneue Unterwäsche anzog – aber Raum und Zeit, Dimensionen, die ER mühelos transzendierte, reichen für mich kleinen Handwerker nicht aus. Im Grunde, wieder nüchtern geworden, lässt sich dieser Nebbich nur mit 95-prozentigem Spitzen- und Vermögenssteuersatz bändigen, denn jeder Cent, den ein Staat noch für Marmorzebrastreifen und goldene Duschköpfe in der „Gorch Fock“ ausgibt, ist dreimal besser angelegt, als ihn bei diesen Millionärshohlköpfen zu belassen. (14.03.2019)

Philosophieren im U-Boot
Peter Sloterdijk, das intellektuelle Irrlicht unter den sonst eher behäbigen Philosophieprofessoren, der seinen Ruhm darauf begründete, einst von Habermas mit Hans Magnus Enzensberger verwechselt worden zu sein, hat nicht zuletzt in zahlreichen Interviews immer wieder seine Distanz zur Frankfurter Schule, namentlich Adorno, hervorgehoben. Er, der Indienfahrer und Ex-Sannyasin, ein heiterer Philosoph des südlichen Lichts und offener Himmel, habe sich mit dem Schreiben der „Kritik der zynischen Vernunft“ vom „linksliberalen Miserabilismus“ befreit und die alten „Schlechtwettergenossen“ hinter sich gelassen. Liest man heute beispielhaft das 36. Kapitel der „Minima Moralia“ erneut, überschrieben mit „Die Gesundheit zum Tode“, so gleicht der abwertende Begriff der Schlechtwetterphilosophie einem gut gemeinten Ratschlag, nicht ohne ein Mittelchen mit erhöhtem Sonnenschutzfaktor die Reise in die Hölle anzutreten. Adorno skizziert die vollkommene Ausweglosigkeit des Individuums unter der „absolute(n) Vorherrschaft der Ökonomie“, sprich des entwickelten Kapitalismus, an den sich gerade das Gesunde, Normale nur „vermöge der tiefsten Verstümmelung“ anzupassen vermag. Die Deformation geht auf einen gleichsam prähistorischen Eingriff zurück, der die Kräfte schon bricht, bevor es zu den klassischen Triebkonflikten überhaupt kommen kann, das Ergebnis sind hirntote „Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit“ des popular girl und regular guy. Dem steht aber nicht etwa, als letzte Zuflucht, die „Gesundheit des Kranken“ gegenüber, denn diese bedeutet nur, in einer das Kapitel abschließenden und etwas nebulösen Volte finaler Rettungslosigkeit, das „Schema des gleichen Unheils auf andere Weise“.

Naja, Teddy halt, so könnte man Sloterdijk folgend diese schwärzeste Diagnose unserer scheinbar alternativlosen Art, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren, achselzuckend abtun. Zumal sich Adorno bekanntlich zum Zeitpunkt der Entstehung der „Minima Moralia“ im Exil in den USA aufhielt, wo die ungetrübte Rohform des Kapitalismus blühte. Mindestens genauso stark wirkte der Nazi-Terror in der deutschen Heimat auf die gesellschaftliche Analyse ein, gerade hier standen die Mörder in einer langen Tradition von Unfreiheit und Ausbeutung. Was wäre aber, wenn Adorno recht hätte, und das „abstrakte Tauschprinzip“, die Ausbleichung der Beziehungen durch Konkurrenz und Selbstvermarktung, die Verwandlung von Menschen zu disponiblem Material, die allseits grassierende Fatigue vor den verschärften Ansprüchen der Ökonomie hätten sich in alle Poren des Alltags eingenistet, von den Gewinnern schwungvoll exekutiert, von den Verlierern halbbewusst und ohnmächtig erlitten? Mir scheint, dies ist eine Frage der Literatur und Kunst geworden, die Wissenschaft, Soziologen und Philosophen voran, hat jedes Erkenntnisinteresse, das den gleichsam molekularen Alltagskapitalismus kritisch untersucht, verloren. Wonach und auf welcher methodologischen Grundlage sollte man auch forschen?

Mein heutiges Exemplar der „Minima Moralia“ stammt übrigens von meiner Mutter, ich hatte es ihr vor jetzt 35 Jahren zum Geburtstag geschenkt. Dass die Kinder ernst machen mit den eher formalen Bildungsansprüchen der Eltern und die im Bücherschrank in Ehren verstaubten Klassiker auch wirklich lesen, daraus dann Interessen entwickeln und weiterführen, um sie später in illusionärem Missionierungseifer zurückzuspiegeln, ist so ungewöhnlich nicht, Sloterdijk hat in ähnlichem Zusammenhang von den seelischen Erbgängen im Bürgertum gesprochen. Bevor sie es mir zurückgab und ich in sinistrer Begeisterung das halbe Buch mit Bleistift unterstrich, hatte meine Mutter mit dünner schwarzer Kugelschreibermine einige senkrechte Randstriche vorgenommen, die dann nach dem 6. Kapitel versiegen. Sie, die eine glühende Hitler-Verehrerin gewesen war und zeitlebens ein irritierend diffuses Verhältnis zum Nationalsozialismus pflegte, hatte also Adornos Diktum, es gehöre zu den symbolischen Untaten der Nazis, uralte Leute umzubringen, tapfer überlesen und war dann Ende des 5. Kapitels aus der Kurve getragen worden, exakt markiert von einem streng in die Länge gezogenen missbilligendem Fragezeichen. Ließ sich der Hass Adornos auf längst zerfallenes Nazitum noch abtun als politisch oder jüdisch motivierter Spleen, so scheint sein Hohelied auf intellektuelle Einsamkeit, die Absage an „alles Mitmachen, alle Menschlichkeit“ noch heute die wahre Provokation zu sein, die schon meiner glänzend umtriebigen Mutter übel aufgestoßen war.

Etwa um diese Zeit des Schenkens und Zurückgebens Adornos Aphorismenbuchs zog ich von zu Hause weg zum Studium an den Bodensee. Das heißt, im Grunde hatte sich schon erwiesen, dass ich mich nicht zum Studium eignete, denn die Angststörung, die mich seit der Pubertät wie eine Bleiweste umschloss, machte den geregelten Besuch der Universität unmöglich. Ich quartierte mich im Haus eines Doktors der Chemie ein, versah das Zimmer mit vielen Bücherregalen und einer stattlichen Musikanlage und trat so gerüstet dem weitläufigen, wenn auch naturgemäß unverbundenen Orden der Einsamkeit bei ohne Mitgliedschaft in einer brillanten gesellschaftskritischen Schule, ein früher Hikikomori des Analogzeitalters. Hier wurde ich zum passionierten Radiohörer, denn das Angebot an deutschen, schweizerischen und österreichischen Programmen mit Musik, Essays und Hörspielen war beeindruckend vielfältig. Im ORF lief wohl auch eines Abends das seltsamste Hörspiel dieser Zeit, von dem ich leider zu spät und erfolglos Titel und Autoren recherchierte. Ohne mich an Details zu erinnern, ging es um eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern, die in einem U-Boot – oder war es ein Raumschiff? – irgendwo in den Tiefen des Ozeans einem Forschungsprojekt nachgingen. Die Wissenschaftler bemerken mit der Zeit anhand von unscheinbaren Anzeichen, dass mit ihnen irgendetwas nicht stimmt, sie sehen beispielsweise ihre Umgebung in Fehlfarben oder in kurzzeitiger Monochromie. Nach und nach schließen sie darauf, dass ihre Umgebung, U-Boot und Experimentierlabor, nur simuliert, ihren vom Körper isolierten Gehirnen nicht ohne leichte, aber unvermeidbare Bugs vorgespielt wird. Die Motivation solch böser Tat liegt in der Rückschau leider ebenso im Dunkeln wie das Finale der dystopischen Parabel zwischen den Polen Rebellion und Selbstzerstörung. Später wurden im übrigen ganz ähnliche Motive populär durch den spektakulären Actionfilm „Matrix“ der Brüder Wachowski, in dem intelligente Maschinen Menschen als Energieträger versklaven und mit simuliertem Alltagsleben jeden Widerstand zu unterbinden suchen.

Ich wäre damals gern, trotz Adorno-Lektüre, ein regular guy gewesen, der einsame Widerstand lag mir nicht. Der Verdacht, dass die destruktiven Kraftfelder, die das Ich durchziehen, auch von einer verselbständigten menschenfeindlichen Ökonomie abstrahlen, die den neurotisch-familiären Komplex erst scharf stellt, hilft nicht weiter ohne Erfahrungen, ohne Verstrickung in ein Leben, dessen Echtheit erobert und erlitten werden will. Selbst wenn es wahr ist, dass der Erfolg das Ergebnis einer Anpassungsleistung ist, die jeden nach ökonomischer Tauglichkeit sortiert, und reziprok das Scheitern anzeigt, dass ein Immunsystem zu schwach ist für die Marginalisierung des Unverwertbaren – das Soziale in Gänze als vergiftet zu verdammen, etwa unter dem Aufleuchten der intellektuellen Supernova Adorno, stärkt nicht die Kräfte, die für ein besseres Leben für alle arbeiten. Der fundamentalkritische Blick auf die Welt sollte immer nur ein Startpunkt sein, bereit, ja gierig auf das Paradox, sich an jeder neuen Straßenbiegung freudig widerlegen zu lassen. (06.03.2019)

Aus dem Werkzeugkästchen geplaudert (2) – Kina, Kina, Kina / Chinesen
Sie durchqueren rasch die monotone Maschinenparklandschaft mit den wie in Trance vor sich hin werkelnden Fertigungsrobotern.  Plumm will wie jedes Mal zunächst zu den Chinesen und Lehrmann stellt gerne seine nicht sehr üppigen Englischkenntnisse zur Verfügung. Die chinesischen Grabsteinproduzenten hatten früher noch ihre eigene Halle, bevölkern aber inzwischen mit ihren paar Dutzend Kleinwaben nur noch einen etwas abseitig gelegenen Hallenteil. Ihre Ausstattung verzichtet auf Originalität und besteht aus einer Handvoll immergleicher Granitmuster, einigen aufwendig vollpolierten Kleingrabmalen wie aus dem 3-D-Drucker, Wandfotos von Luft- und Detailaufnahmen der Produktionsstätten und einer kleinen Sitzgruppe mit Tisch und obligatorischem Knabberzeug. Vorne, mit Blick auf die spärlich vorbeitröpfelnden Passanten, steht immer eine zierliche Chinesin, die Englisch spricht und beim geringsten Zeichen von Interesse den Kontakt eröffnet. Erst später am Nachmittag zieht dann in manchen Stand Verlassenheit und Resignation ein, man sitzt höchstens noch mit seinesgleichen zusammen, betreibt leise Konservation und gibt jede Aquiseanstrengung auf.

Plumm steuert sofort einen Stand an, bei dem er das aktuelle Lieblingsmaterial seiner Kunden Aurora Red in prominenter Auslage entdeckt hat. Dieser rötliche Gneis steht ganz typisch für die Dominanz der Inder auf dem Markt, die seit den siebziger und achtziger Jahren, befeuert noch von spottbilligen Fertigungspreisen, die monochrome Einfalt europäischer Sorten hinwegfegten. Die Chinesen versuchen zwar, ihre eigenen Sorten bekannt zu machen, dringen aber anders als im Baubereich im konservativen und weniger preisgetriebenen Grabmalbereich nur langsam durch. Sie importieren die Rohblöcke der beliebtesten Sorten aus Indien, verarbeiten sie wie alles vom Knopf bis zum Flugzeug in ihrer riesigen Fertigungsindustrie und schicken die Produkte in Containerschiffen nach Europa und in die Welt. Während das Geschäft der Inder eher über große Handelsfirmen als verteuernde Zwischeninstanz läuft, arbeiten die Chinesen gerne direkt mit Steinmetzen und Grabmalmonteuren zusammen, die den Aufwand für Importformalitäten nicht scheuen. Plumm, ein Russe aus Litauen mit jüdischen Wurzeln, hat von Anfang an seine ganze berufliche Existenz der günstigen China-Ware verschrieben und Lehrmann, den er als Türöffner und Handwerker für vielerlei brauchte, zur Trittbrettfahrt eingeladen.

Sie nehmen etwas umständlich am Tisch Platz, Rucksack und Rollkoffer sind notdürftig verstaut, alles ist etwas eng und für große Europäer nicht gemacht – wobei Plumm eher kurz und dick ist, eine freundliche Version des Vaters von e.o.plauen ohne Schnauzbart, die gleich das Wort ergreift: – Ich habe nur eine einzige Frage – ein typischer Plumm-Eröffnungssatz, denkt Lehrmann, könnte auch von Reich-Ranicki sein – können Sie liefern nur ein Kubikmeter? Lehrmann weiß nicht recht, ob er Plumms schlauen Geschäftssinn, mit dem er so umstandslos zur Sache kommt, nicht doch bewundern oder sich fremdschämen soll. Da fahren die Chinesen 8000 km in ein fremdes Land und als erstes fragt sie ein korpulenter Russe, ob sie eine Kleinmenge liefern können. Gut, die Visitenkarte wurde ausgehändigt als asiatische Grundvoraussetzung dafür, überhaupt ein vollwertiger Mensch zu sein. Und haben die Russen nicht seit Jahrhunderten eine gemeinsame Grenze mit diesem seltsamen Völkchen, das wie Deutsche in billiger Volksausgabe die übrige Welt mit seinem Plunder überschwemmt? Lehrmann beschließt, seinen Kompagnon machen zu lassen, übersetzt der eifrig lauschenden Dame, die eine Bestellung von zehn Containern monatlich entgegenzunehmen scheint, in holpriges Englisch und wartet dann auf ein Ergebnis der internen Besprechungen. Der Chef wischt und tippt wichtig auf seinem Tablet herum, rechnet mit seinem Taschenrechner und lässt dann verkünden, yes, this is possible. Die junge Chinesin, euphorisiert vom durchschlagenden Erfolg, sie haben wohl wirklich nur selten Kundschaft hier, denkt Lehrmann, will noch alles Mögliche wissen, wo sie herkommen, welche Steine sie kaufen möchten, welche Mengen, aber die Knabbereien, die Lehrmann hätten halten können, schmecken nach früher Ming-Dynastie und Plumm drängt bereits zum Aufbruch, lässt sich nur noch die Preisliste aushändigen, checkt ein paar bekannte Sorten – 150 Dollar billiger, murmelt er anerkennend, und nach einer guten Viertelstunde sind sie auch wieder draußen.

Sie besuchen noch zwei oder drei andere Stände mit geringen Variationen. Mal taucht eine Studentin auf, die passabel deutsch spricht, eine sinnvolle Marketingmaßnahme, denkt Lehrmann, polyglotte Begabung und Steinmetzberuf finden selten zusammen. Oder es stellt sich ein Chef als bunter Hund heraus, der russisch spricht, auch das kommt vor, und Plumm verlässt seinen Schildkrötenpanzer und diskutiert lebhaft über seine Anliegen. Heraus kommt eigentlich nie etwas, die Konditionen sind überall sehr ähnlich, die Motivation, eine leidlich gut funktionierende Lieferantenbeziehung durch eine unbekannte neue zu ersetzen, ist gering. Hatte Lehrmann, aus Versehen oder auf ungewöhnlich vehementes Drängen der Firma seine eigene Visitenkarte doch mal übergeben, kommen ein paar Mal noch Mails mit Mustergrabsteinen mit gemeißelten Engels- oder Heiligenfiguren, die einsame künstlerische Spitze präsentieren sollen, das war´s dann. Für den kleinen Steinmetz in Deutschland, macht sich Lehrmann klar, wirken die chinesischen Anbieter wie ein Staatskonzern mit lauter kleinen Filialen, die alle nach den gleichen Regeln spielen und unter sich ruinösen Wettbewerb vermeiden. Plumms kaufmännische Schläue läuft ins Leere, ist im Grunde Spiegelfechterei. Die wahre Konkurrenz besteht mit den Indern als zweitem mächtigen Billiganbieter, aber die schrecken vor der Fertigung von eingestrahlten Inschriften zurück. Die Chinesen machen alles bis hin zu einer passablen Echtvergoldung und bringen so Fachfremde wie Plumm überhaupt erst in den Markt. Für Alteingesessene, die selbst gerne nach Indien fliegen, um in den Steinbrüchen exklusive Neumaterialien zu begutachten, ist das natürlich, wie neue Konkurrenz immer schon seit den kapitalistischen Anfängen, der Untergang des Abendlandes. (26.02.2019)

War was? Die Splitterrückschau 2018 (2)
Eine der häufigen Schlagzeilen in 2018, die Sie, liebe Leserin und lieber Leser, vermutlich übersehen haben, weil Sie zur Zeit mal kein Häuschen bauen, war die, dass Deutschland der Sand ausgeht. An mir kann das nicht liegen, vom anfangs tonnenschweren Sand-Big Bag, den ich mir vor vielen Jahren im Baumarkt holte, ist immer noch ein guter Rest vorhanden. Eigentlich brauche ich jeweils nur ein paar Handvoll davon als Ausgleichsmasse für die grobe Erdausschachtung zum Verlegen von Rasengrabplatten. Selbst wenn man den Sandanteil von Fertigbeton und -mörtel dazurechnet, wovon ich allerdings einige Tonnen im Jahr verbrauche, bin ich natürlich gänzlich unschuldig an der Misere, die eine Folge des Baubooms ist. Ob der Bild-Zeitung die gleiche Schlagzeile wie Spiegel-Online eingefallen ist, bezweifle ich, bei ihr erwartet man mehr Drive oder, für ältere Semester und Ossis, mehr Pep. SPD GEHT DER SAND AUS wäre schon viel besser, der Sinn ist hier im Grunde nebensächlich, schlagzeilen ist nicht das Geschäft von Edelfedern. Die Bild-Zeitung heißt beim Eifler um die Ecke nur Zeitung und wird zum Schinkenbrötchen mit Kaffee für nen Euro gleich mitbestellt. Ich wundere mich dann immer darüber, dass es so einen Bohei um Schimmel und Ratten in verwahrlosten Backstuben gibt, ja schon das unbewiesene Gerücht existenzvernichtende Konsequenzen hätte, die sonst so hygienebewussten Leute aber die plattgedrückte Kakerlake auf ihrem leckeren Schinkenbrötchen in Form einer Drucksache übersehen. Als sich neulich die gute Freundin eines kranken und wehrlosen Nachbarn, der in seiner Dachmansarde neben Dauerschimmel auch noch eine Mieterhöhung verkraften muss, empört Luft machte und drohend ausrief, jetzt werde sie aber die Bild-Zeitung informieren, schauderte es mich. So wird das nichts mit den kleinen Leuten, wenn sie den Miethai beim Oberpriester für wirtschaftsfreundliches Klima anschwärzen, in dem für Arme und Kranke die Kirche und Beten zuständig sind. Es ist zum elitär werden. Apropos, mit der FAZ könnte man die flinken Biester natürlich viel besser erwischen, über die briefdünne Bild-Zeitung lachen die bloß. Aber dafür hat der soignierte FAZ-Leser seinen Kammerdiener, äh, pardon, – jäger. Habe ich da gerade Signifikat und Signifikant vertauscht, oder, da es sich ja offensichtlich um eine aus dem Ruder gelaufene Metaphorik handelt, Quellbereich und Zielbereich, gar Tenor und Vehikel (danke, Wikipedia)? Und eigentlich auch das Thema verfehlt, es geht ja um 2018? Was erwarten Sie denn von den Ausführungen eines kleinen Steinmetzen mit geringem Verstand? Ich geh jetzt erst mal eine Runde … mich sammeln. (19.02.2019)

Aus dem Werkzeugkästchen geplaudert (2) – Kina, Kina, Kina / Messe
Steinmetz Lehrmann reist immer mit gemischten Gefühlen zur Fachmesse, die alle zwei Jahre in der fränkischen Großstadt stattfindet. Nicht so sehr die gut zwei Stunden dauernde Anreise mit dem Auto stört ihn, sie ist noch am wenigsten umständlich. Er ist auch schon mal, meist auf der Heimreise, mit dem Zug und mit einem der damals neuen Fernbusse gefahren, spottbillig, aber mit geradezu kunstvollen Umfahrungen des eigentlichen Ziels, das so erst um Mitternacht erreicht war. Für ihn passt auch ökologisch korrektes Verhalten irgendwie nicht zu dieser Messe, zu den Leuten, die man dort sieht und die großteils seine Kollegen sind. Schon bei der Einfahrt ins Parkhaus im alten Corsa seines Kompagnons Plumm, der ihn in der Regel auf der Tagesreise begleitet, ist ihm etwas unwohl beim Anblick all der Breitreifen, Sportfelgen, SUVs und großflächigen Firmenlogos. Den fetten Autos entsteigen zumeist jüngere kräftige Männer in sportlichem Outfit in Begleitung von ebenso bodenständig wirkenden Frauen, die ausflugsfein herausgeputzt sind. Stadtbewohner Lehrmann schließt von den mitgehörten Satzbrocken in meist süddeutscher Dialektfärbung und den vorwiegend dreistelligen Ortskennzeichen der Autos darauf, dass die kleine Invasion aus der Fläche kommt, der Provinz, wo Böden und Fachkräfte noch vorhanden und bezahlbar sind. Die erste Halle, die sie betreten, Plumm zieht wieder beflissen sein kleines Rollköfferchen hinter sich her in Erwartung größervolumiger Beute, ist gleich ein actiongeladener Maschinenpark, überall wird programmgesteuert gefräst und gesägt auf weitläufigen Arbeitstischen oder sausen Schneidemesser über Folien. Lehrmann fühlt sich wie ein Einhandsegler auf dem Atlantik, der einem Containerschiff begegnet. Dass es hier, in den kleinen Grüppchen, die sich um das Standpersonal in homogen-bunten Overalls drängen, umstandslos ums Geldverdienen, um Investition und Rendite geht, ruft in ihm das ambivalente Gefühl befremdeter Faszination und fragiler Richtigkeit zurück, mit dem er den Beruf ergriffen hat.

Jedes Mal spannend ist es auch zu sehen, wen man hier zufällig trifft. Wie in einem riesigen Ausgrabungsfeld kann man überall, in den kahlen Verbindungsfluchten zwischen den Hallen, bei kurzer Rast auf einem der wenigen freien Sessel inmitten vollgestellter Besucherlandschaften, beim Abbiegen in eine stille Nebengasse, auf Fundstücke sämtlicher Sedimentschichten der beruflichen Vergangenheit stoßen. Vor zwei Jahren trafen Lehrmann und Plumm zufällig, im randseitigen Kleinkubus eines eher obskuren Softwareanbieters, zwei entferntere Kollegen, die sie schon seit vielen Jahren aus den Augen verloren hatten, und es entspann sich ein lebhaftes Gespräch, als ob sich Bekannte aus demselben Heimatort in New York begegnet wären. Der ältere der beiden, ein angestellter Meister oder Altgeselle, der mit einem Helfer bundesweit Grabanlagen montierte, erklärte Lehrmann, bei ihm ginge es nicht mehr weiter, alle Knochen wären kaputt, er hätte das aber durchziehen müssen, weil Tommy, dabei sah er milde zu seinem Chef hinüber, ja niemand anderen gefunden hätte, in der Aufbauphase und danach. Lehrmann hatte sich nach medizinischen Details erkundigt, um die angenehme Welle der Solidarität am Laufen zu halten, auf der freilich auch ein wenig Befriedigung korkengleich mithüpfte darüber, selbst größerer Abnutzung entronnen zu sein. So ähnlich müssen wohl Treffen von Kriegsveteranen sein, war ihm durch den Kopf gegangen, das gemeinsame Glück versehrten Überlebens.

Nach einem Bierchen dann wieder hinaus in die bunte Welt des Überflusses und der adretten Verkaufsdamen, die charmant die Bummler im Passantenstrom herausfiltern und eine Weile festhalten in der Hoffnung auf ein nettes Gespräch oder sogar verwertbaren Erfolg in Form überlassener Visitenkarten. Manchmal trifft Lehrmann auf Markus, seinen alten Meisterschulkumpel, ohne den er die Prüfung wahrscheinlich nicht geschafft hätte. Ungeschick und Eigenbrötelei hatten Lehrmann ein wenig zum Sonderling gemacht in der Klasse lauter blutjunger Chefsöhne. Sie waren die Ältesten gewesen, die einzigen mit akademischer Vergangenheit und obwohl Markus immer wieder für viele Wochen spurlos verschwand, um dann ohne Erklärung plötzlich wieder aufzutauchen, wusste Lehrmann, dass sie der unbedingte Wille zum Abschluss zuverlässig zusammenschweißte. Markus, der über die Jahre an Umsatz und Leibesumfang deutlich zugenommen hatte, brachte es mit der ihm eigenen schwäbischen Urgewalt voranzukommen inzwischen auf zehn Mitarbeiter. Um den etwaigen volatilen Neid im Voraus zu dämpfen, hielt er stets den Spruch parat, es käme viel herein und viel hinaus. Lehrmann bewunderte die Fähigkeit seines alten Kumpels, noch die größten Katastrophen als guten Witz zum Besten zu geben.

Und da ist noch die unterste Sedimentschicht, das Präkambrium, die Ursuppe, in der sich zufällig die Teilchen gefunden haben, aus denen Steinmetz Lehrmann hervorgegangen ist. Der Stand des Grabmalproduzenten Gutte, glitzernd und riesig, aber an sich harmlos, beherbergte früher noch die gleichnamige Schweizer Partnerfirma, eine brüderliche Abspaltung. Ihr Chef, ein kleiner Stämmiger, hatte Lehrmann zum Ende dessen Bodensee-Zeit für eine zweijährige Bildhauerlehre in seinem Granitwerk eingestellt und ihn gleich durch alle Produktionsbereiche gescheucht. In der ersten Woche zog er sich eine tiefe Risswunde am Finger zu beim Schleifen mit der klobigen Handmaschine, in der zweiten ein paar Verbrennungsnarben an Hals und Nacken beim Abflammen von Grabsteinen, nach vier Wochen war ihm das Geld ausgegangen und er blieb einfach weg. Er war wohl zu wehleidig, zu weich für diesen Beruf. Er war um den Stand mit dem Gutte-Bruder herumgeschlichen, ohne ihn anzusprechen. Plötzlich hatte er auch den Mann neben ihm erkannt, das war doch Knott! Knott, sein damals junger Chef, der ihn als Student in seinem Kleinbetrieb im Hegau eingestellt hatte, wo Lehrmann erstmalig dazugehörte als Teil einer bunten Kollegenschar von Deutschrussen, Italienern und Einheimischen. Dann kam der Crash, Knott wollte das große Rad drehen, war in eine riesige Gewerbehalle mit modernstem Maschinenpark umgezogen und hatte sich übernommen, die Banken kündigten die Kredite und Knott flüchtete in die Schweiz zum Gutte-Bruder. Womöglich war es der Eindruck dieser Sterbebegleitung, des hautnahen Durchlebens sämtlicher Etappen des Scheiterns, die Lehrmanns Genügsamkeit ihm selbst plausibel gemacht hatte. (12.02.2019)

Die deutsche Revolution
Für die immer etwas steife Gedenkkultur in Deutschland war die Wiedervereinigung spät, nach einer Kette von Verbrechen und Katastrophen, das großartige Geschichtswunder, auf das man nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Inzwischen ist viel Wasser in den Wein geflossen, aber das aufschießende Glück vieler Ostdeutscher, von Gängelei und Konsumverzicht befreit, im Verbund mit meist älteren Nostalgikern im Westen, die an der Teilung litten, ist nach wie vor der Grundstoff endlich unpeinlicher patriotischer Feierstunden. Besonderen Glanz verleiht den zu diesem Anlass verfertigten Reden, Leitartikeln und anderen edlen Verlautbarungen der Umstand, dass es sich offenbar um eine blitzsaubere und friedliche Revolution handelt nach zwei blutig gescheiterten und das bebrillte Streberchen in der ersten Reihe der Weltgemeinschaft schnippt schon wieder ungeduldig mit dem Finger: seht her, wir können nicht nur Autos, wir können auch Revolution! Da kann es nur als undankbare Nörgelei empfunden werden, wenn etwa der Ost-Schriftsteller Reinhard Jirgl lieber von einer „teils beamtischen, teils feindlichen Übernahme“ eines bankrotten Staats durch die „etwas solventere Firma BRD“ spricht. Die beiden Vorläufer, feiertechnisch eher underperformer, drohen darüber in Vergessenheit zu geraten. Die letzte ist jetzt ziemlich genau  einhundert Jahre her.

Die erste Revolution von 1848 ist wohl fast jedem Schüler, der den Geschichtsunterricht nicht komplett verschnarcht hat, als nobler, aber etwas blasser Versuch in Erinnerung geblieben, den Absolutismus zu brechen, Deutschland zu einen und demokratische Grundrechte durchzusetzen. Das ehrenvolle Gedenken gilt dem Vorläufer heutiger Verfasstheit, sie feiert den etwas krummbeinigen und nicht lebensfähigen Humanoiden auf dem Weg zum gereiften Homo sapiens. Die zweite von 1918/19 war ja keine richtige, so die konservative Lesart. Zwar gab es einen Aufstand der Matrosen, die im Verbund mit Arbeitern und Soldaten das alte Regime hinwegfegten. Der Flächenbrand bis hin zur bolschewistischen Machtergreifung konnte aber von hier mal verlässlichen Sozialdemokraten und verbündeter, zugegeben nicht ganz hasenreiner Soldateska verhindert werden, der erste demokratisch legitimierte Staat auf deutschem Boden entstand. Zuerst kam die Revolution zu früh und musste scheitern, dann geriet sie aus dem Ruder und musste niedergeschlagen werden.

Dass es in Wahrheit ein bisschen anders war, davon erzählt das großartige Buch von Sebastian Haffner über die „Deutsche Revolution“, das unter dem prägnanteren Titel „Der Verrat“ erstmals 1968 in der Zeitschrift „Stern“ erschien. Damals war ich im Begriff, auf ein altsprachliches Gymnasium zu wechseln, wo in Geschichte nach vier Jahren der Investiturstreit, nach sechs bei Auflösung des Fachs Bismarck erreicht war. Und der packendste Thriller der jüngeren Geschichte, damals kaum 50 Jahre her, ein entscheidender Angelpunkt, von dem aus die Mordideologie hätte gestoppt werden können, wurde uns damals vorenthalten, die wir nur auf eine langweilige Karriere als Lehrer, Jurist oder irgendwas mit Wirtschaft vorbereitet werden sollten – eine Schande!

Es ist ein düsterer Thriller, in dem nicht die Guten gewinnen. Die Rolle des Schurken verkörpern die Freikorpsverbände. Als trainierte Killer fahren sie auf hakenkreuzbemalten Lkws durch Berlin und schlagen die Revolution überall in Deutschland effizient und blutig nieder. In München stellen sie 21 friedlich versammelte Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins an die Wand, deren dialektgefärbten Erklärungen sie nicht verstehen. Ihre Auftraggeber und Sympathisanten sind zahlreich, hohe Militärs, Fabrik- und Großgrundbesitzer, die Kirche, eine konservative Justiz, die Morde wenig härter als mit dreitägigem Puddingentzug ahndet, ängstliche Beamte und Bürger, kurzum die Obrigkeit und ihre treuen Diener. Der wichtigste ist die SPD. Ihr fällt die Schlüsselrolle zu im politischen Machtkampf, weil die revolutionären Massen ganz überwiegend sozialdemokratisch gesonnen sind. Ihr Führer Ebert, im Grunde Monarchist und braver Bewilliger der Kriegskredite bis zuletzt, den erst der Druck der Straße zum Republikaner macht, hasst die Revolution mit ihren Arbeiter- und Soldatenräten „wie die Pest“.  Die Mehrheits-SPD unter Ebert, Scheidemann, Noske, Wels beginnt ein Doppelspiel, rhetorische Zugeständnisse an die Massen bei gleichzeitigem Teufelspakt mit der deutschnationalen Gegenrevolution, die noch ohne Hitler marschiert.

Die Niederschlagung der Revolution, ihrer Forderung nach Entmilitarisierung, Vorrang von Arbeiterrechten in den Räten, Unterbindung der toxischen völkischen Ideologie, hat die Linke zerschmettert zurückgelassen, selbst die scheinbar siegreiche SPD kommt danach lange nicht mehr auf die Beine. Die Führer der äußersten Linken, Luxemburg und Liebknecht, ihren sozialdemokratischen Todfeinden an Moralität und Intellekt so turmhoch über- wie an Organisationskraft und Rückhalt an der Basis unterlegen, werden wie bekannt wie Ratten erschlagen-erschossen und lassen die KPD auf dem Weg zur stalinistischen Kaderpartei zurück. Freie Wahlen und Achtstundentag, für sich genommen beachtliche Fortschritte, retten Deutschland nicht vor dem Sturz in die Hölle. Immerhin, es war, für ein paar Wochen, eine Art Weltwunder, eine echte deutsche Revolution. (05.02.2019)

Sonnensingen, Schattendenken
In einem der großen Romane von Garcia Marquez, die den emblematischen Abenteuerbüchern meiner Kindheit nachfolgten mit den innovativen Ingredienzen sex and crime, wird von einem Sommertag erzählt, der so heiß ist, dass die Vögel im Fluge sterben und ihre Kadaver mit einem Knall an die Fensterscheiben schlagen. So märchenhaft heiß und weißglühend hell war der Sommer in der Erinnerung an meine Urlaubsferien in Spanien in den späteren 60er Jahren. Ein Zahnarztkollege meines Vaters hatte den Eltern sein Ferienhaus bei Benidorm überlassen, in einiger Entfernung zu den damals erst im Entstehen begriffenen Betonmassiven des Marzahn des Südens. Ich muss damals etwa acht oder neun Jahre alt gewesen sein, schon gewohnt an das komfortable Schattenleben eines Drittgeborenen von vier Söhnen, das Easy-going des fast Übersehenen, und dabei doch auf der Lauer, die wenigen Möglichkeiten zur Profilierung entschlossen zu nutzen. Der Familienverband wurde von meiner Mutter durchaus straff geführt, die sich als gelernte Pädagogin ganz der Pflege und Erziehung meiner Brüder und mir verschrieben hatte. Ihr Verhältnis zu meinem Vater, der sein Interesse weitgehend auf die wissenschaftliche Karriere konzentrierte, schien damals merkwürdig angespannt zu sein, aber ob es über die normalen Ausschläge der Beziehungsamplitude eines allzuvertrauten Paars hinausging bis hin zu einer veritablen Ehekrise weiß ich nicht. Über die Gründe wäre sowieso uns Kindern gegenüber eisern geschwiegen worden. Wahrscheinlich hatte sich nur etwas eingespielt zwischen den beiden, ein Austarieren von Enttäuschungen und Selbstbehauptung in Form kleinerer Scharmützel mit meiner Mutter in unermüdlicher Offensive. Wir Kinder, ihre Geschöpfe, waren die Zukunft, die unter ihren Händen nur eine glänzende sein konnte, und der sorgenvolle Blick meines Vaters auf uns war nicht nur der des Arztes und des nicht üppig verdienenden Ernährers einer großen Familie.

Das Haus, in dem wir wohnten, war zweistöckig mit einer Terrasse und einem richtigen Kamin, dem ich – sicher auf Vorschlag meiner Mutter – als Großstadtkind meine Reverenz erwies, indem ich ihn mehrfach mit Buntstiften abzeichnete. Spektakulär war außer dem Kamin vor allem der kleine Swimmingpool vorm Haus, den ich nur vom sicheren Rand aus bestaunte, da ich nicht schwimmen konnte. Er wurde mit Wasser befüllt, das in engen gemauerten Kanälen wer weiß woher heranrauschte, ein fantastischer Einbruch von Geräusch und Kühle in die träge Helligkeit des Tages, das blendende Weiß von Böden und Wänden. Das Zimmer teilte ich mit meinem ältesten Bruder, was ein kleines Privileg war, galt er wohl nicht nur mir als eine Art gutmütiger Leitbulle, mit dem man prima auskam, solange man ihn nicht reizte. Mit dem zweitältesten fast gleichaltrigen Bruder hatte es schon häufiger Rangeleien gegeben, in denen ich regelmäßig den Kürzeren zog, die Aussicht auf pausenloses Konkurrieren gegen seine finale körperliche Übermacht schreckte mich ab. Und mit dem jüngsten Bruder teilte ich schon zu Hause das Zimmer – im Urlaub, wo die Karten neu gemischt wurden, nutzte ich die Chance, mich im Ranking zu verbessern.

Ich war wohl damals tatsächlich – glücklich und ohne Angst.  Das vermute ich deshalb, weil ich damals etwas tat, was nie wieder in meinem Leben vorkam, ich spazierte herum und sang. Das heißt, ich summte oder trällerte nicht vor mich hin, ich sang aus voller Kehle irgendwelche Melodien, die mir durch den Kopf gingen mit irgendeinem Text, der mir gerade einfiel. Ich lief dabei um das Haus herum, es war wie immer ein schöner Sommertag, ich lief zum Schwimmbecken, balancierte auf den niedrigen Bruchsteinmauern, wäre wohl auch gern auf einen Baum geklettert, wenn sich einer angeboten hätte, ein rauschhaftes Coming Out zuvor verborgener Lebendigkeit und unbändiger Energie, die Luft zitterte nicht vor Hitze, sondern dem Erschallen meiner Stimme. Dann rief mein ältester Bruder nach mir, der auf der mittels Außentreppe erreichbaren Veranda ein Buch las, ich unterbrach das Singen, kam zu ihm hoch und er sprach einen der wenigen Sätze aus dieser Zeit, an die ich mich genau erinnere und die wie spärliche, aber unbezweifelbare Dinosaurierknochen das längst Ausgestorbene rekonstruieren müssen: Ich wollte nur mal sehen, ob du aufhörst zu singen, wenn ich dich rufe.

Im Schatten, draußen unterm Vordach oder im angenehm kühlen Haus wurde gelesen und Bilder gemalt, wohl auch zu zweit oder in größerer Runde etwas gespielt, wobei die aufregendsten Spiele erst ein paar Sommer später, unter Beteiligung der wenig älteren Söhne des Hausbesitzers stattfanden, als etwa Kettenbriefe mit ausgesuchten Beleidigungen von einer Partei zu anderen unter der Tür hin- und herwanderten, was sicher nicht die pädagogische Billigung meiner Mutter gefunden hätte. Sie verteilte damals gerne Denksportaufgaben, knifflige Probleme, die mein Kindergehirn schon mal einen ganzen Tag lang beschäftigen konnten. Nachdem ich ihr die Lösung einer besonders schweren Aufgabe nach vielen Stunden stolz vermelden konnte, als Einziger, wie sie lobend herausstellte, beglaubigte sie meinen Erfolg mit der Bemerkung: Papa hat die Aufgabe nicht mal verstanden!

So promoviert zum Lieblingsschüler, fruchtbarer Boden für so viel mühsam ausgebrachten Dünger, lief ich meine Kindheit hindurch immer weiter freudig in die Falle eines bequemen Rollenspiels, das mir eine große Zukunft als Dichter und Denker versprach. Mein Vater aber, vom Krieg gestählter Realist, der die echte Karriere den familieninternen Pipimeisterschaften vorzog, schnitt uns weiter pazifizierende Bubiköpfe und beobachtete aus sicherer Distanz unsere tragikomischen Versuche, die Welt zu erobern. Manchmal träumt mir noch, das Singen wäre die Rettung gewesen. (29.01.2019)

War was? Die Splitterrückschau 2018 (1)
Der Übergang ins neue Jahr heißt immer auch, sich beim Datumschreiben an eine neue Endziffer gewöhnen zu müssen. Bis Januar dürfen Sie sich ein paar Mal verschreiben, ab Februar sollte das im Kasten sein. Sonst haben Sie womöglich Dyskalkulie und müssen zum Arzt. Sozusagen gravierendere Folgen hat es nur noch für den Steinmetz aus der Grabmalbranche, er müsste bald zum Sozialamt. Denn neben Bruch und Zerstörung gilt eine falsche eingestrahlte oder gehauene Inschrift als Super-GAU, als möglicher wirtschaftlicher Totalschaden, das fällige Abschleifen lohnt sich häufig nicht. Überlässt er die Fertigung nicht dem Computer und der CNC-gesteuerten Fräsmaschine muss er in jedem Fall im neuen Jahr die geänderte Endziffer zeichnen und einhauen bzw. in Folie schneiden. Die „7“ von 2017 ging noch ratzfatz, die geraden Linien durchziehen, die Enden sauber ausstanzen, das wars. Die kringelige „8“ erfordert da weit mehr Sorgfalt und auf Folie droht zusätzlich Gefahr von den beiden runden Binneninselchen, die schon mal wegen mangelnder Klebekraft mit Blitzkleber fixiert werden müssen. Es ist also gut möglich, dass deshalb das Wirtschaftswachstum in 2018 um mindestens ein Milliardstel Prozent zurückgeblieben ist, was der Rat der Wirtschaftsweisen berücksichtigen möge.

Aber heben wir den Blick von der privaten Bastelecke nach draußen, auf Deutschland und die Welt, die, auch das ein Effekt der Globalisierung, rasant an Unterhaltungswert gewonnen hat. Mögen die Kriege, Krisen, Katastrophen in trägem Elendsmarsch an uns vorüberziehen – viele von uns empören sich ja, helfen Flüchtlingen, spenden, treten Parteien bei, wir tun ja von unserem Krähwinkel aus, was wir können – so wollen wir doch auch genießen, was uns die Medienküche an raffinierten Speisen auftischt. Die Top-Quote liefert POTUS Trump, im Grunde eine von Business und Fernsehindustrie zigmal heruntergewürgte und wieder ausgespiene Figur, die im Dschungelcamp Kakerlaken fressen sollte und nicht die Welt regieren. Wir sind von ihm fasziniert wie vom peinlichen Familienonkel Herbert, der säuft und rülpst und rechtsradikale Sprüche absondert, aber Tante Emilies Migräne wegen nicht rausgeschmissen werden kann. Dem, der die Macht hat, muss aber nichts peinlich sein, das ist ja gerade eine der Definitionen von Macht. Peinlichkeit im Weltmachtmaßstab wird unangreifbar, solange jedenfalls, bis die Leute, denen sie die Taschen füllt, sie wieder von der Bühne zerren. (22.01.2019)

Der Steinmetz in der Literatur (4) – Die Säulen der Erde
Im Grunde gibt es zwei Arten von Leser_*Innen (und mindestens drei, um gendergerecht zu formulieren und Wörter zu Sperrverhau zu machen – aber das ist ein anderes Thema).

Genauer gesagt gibt es zwei grundsätzliche Leseformen, die sich in der Regel abwechseln und sogar mischen. Die eine, man könnte sie die emphatische nennen, wird von der Erwartung geprägt, den Leser zu verwandeln, ihn zu einem anderen Menschen zu machen. Die Literaturkritikerin Iris Radisch hat das nicht grundlos von Peter Nadas‘ Parallelgeschichten behauptet. Ich war ja schon früh, nach der Lektüre von „Das kleine Blau und das kleine Gelb“ verwandelt vom Wunder der Metamorphose. Tolstois Roman „Auferstehung“ fällt mir noch als (gewaltfrei) schlagendes Beispiel für ein Buch ein, das auch die wütendste AFD-Kante zu einem Gutmenschen machen könnte, wenn sie denn lesen würde. Die zweite Leseform ist die gewöhnliche und alltägliche, wir tauchen ein in eine spannende Geschichte, verlassen für Stunden den allzu vertrauten Alltag oder lesen ein Fachbuch. Die Eindringtiefe solcher Lektüre ist minimal, die Schutzimprägnierung des Immer-schon-Dagewesenen wird nicht durchbrochen. Dies ist das „normale“ und „gesunde“, gleichsam von der „Apotheken-Umschau“ empfohlene Lesen, das ein  Abgleiten in eine bedauernswerte Junkie-Existenz auf Lesespeed verhindert. Die allermeisten populären Bücher bedienen solch harmlosen Bedürfnisse, was sie aber keineswegs uninteressant macht für meine kleine Kolumne. Es geht ja um einen eher marginalen Beruf mit großer Vergangenheit und dröger Gegenwart, und jede Nobilitierung zum Romanthema sei hier neugieriges Nachspüren wert – erst recht also das Buch der Bücher zum Thema.

Handwerker haben es in der Kulturgeschichte schwer. In Literatur und Musik, Film und Malerei steht kaum jemand von ihnen im Rampenlicht. Schön, die Friseure haben ihren Barbier von Sevilla, die Gärtner den Kalauer im Krimi, die Schneider ihr Märchen, aber Dachdecker und Installateure, Flaschner und Kürschner gehen doch weitgehend leer aus. Wir Steinmetze haben immerhin Ken Follett. Keiner hat mehr für unseren guten Ruf getan als er mit seinem Buch „Die Säulen der Erde“. Weltweit über 15 Millionen mal verkauft, in 30 Sprachen übersetzt, vor einigen Jahren noch in Deutschland das nach Bibel und „Herr der Ringe“ drittbeliebteste Buch überhaupt und längst auch Stoff für Film und Computerspiel – kaum jemand (meine private Umfrage bestätigt das) vermag sich dem Sirenengesang vom abenteuerlichen Leben Tom Builders und Ellens, Jack Jacksons und Alienas zu entziehen.

Das Mittelalter als Sujet bietet dem geübten Erzähler Follett natürlich prächtige Entfaltungsmöglichkeiten, es wird gesoffen, geliebt und gehasst, gekämpft, vergewaltigt, gestorben am laufenden Band, und die über Jahrzehnte entstehende Kathedrale ist weniger ein Wunder genialer Baukunst als gegen alle Widrigkeiten der Hölle behaupteten Durchhaltens. Der bewährte Ansatz, die Episoden aus wechselnder Perspektive der Hauptfiguren zu erzählen, verbindet die Geschlossenheit einer Sprache, die immer Bodenhaftung hält, mit der Vielfalt ausdifferenzierter Lebenswelten wie Kloster, Wanderschaft von Handwerkern, einer Grafenburg oder dem Waldleben von Outlaws. Robert Menasse verwendet übrigens in seinem vieldiskutierten Roman „Die Hauptstadt“ das gleiche Formprinzip bis hin zur beliebten Reprise des Eingangsmotivs am Buchende. Follett muss einen immensen Aufwand an Recherche betrieben haben, kaum vorstellbar, dass ihm ein hochgelahrter Mediävist auch nur in einer Zeile des grabsteindicken Wälzers einen Fehler nachweisen könnte. Hier kann er es mit dem literarisch hochwertigeren Roman „Tyll“ von Daniel Kehlmann locker aufnehmen, der übrigens auch den Wald als unheimliches regelloses Gegenüber zur dörflichen Zivilisation erzählt, in spannendem Kontrast zur heutigen Harmlosigkeit vollbewirtschafteter Baumplantagen. Dagegen verbreiten die theoretischen Ausführungen zu Grundriss und Aufbau einer Kathedrale dieselbe gepflegte Langeweile, die sich im Stilkundeunterricht von Berufs- und Meisterschulen ausbreitet. Ohne Anschauung am „lebenden“ Objekt ist hier alles, was knistert, das Papier beim schnellen Überschlagen der Seiten.

Hochspannend dagegen, geradezu eine Rückbesinnung auf die halluzinatorische Kraft kindlicher Abenteuerbücher, fand ich besonders zwei Szenen, das nächtliche Abfackeln der alten Klosterkirche durch den kleinen Jack und das Eingangskapitel mit der Schilderung der Hinrichtung von Jacks Vater. In den ersten Sätzen des Romans, die ein Versprechen sind, das über manche Ödnisse im weiteren Verlauf hinweghilft, meint man den Eishauch zu spüren einer unvorstellbar rohen Welt, in der Gewalt, Hunger und Sterben allgegenwärtig gewesen sein müssen wie heute vielleicht im Jemen, in Syrien oder dem vergessenen Slumviertel einer südlichen Millionenstadt. Am Schluss siegt natürlich das Gute und der Böse baumelt am Galgen: sich gegen die Morallibido der Leser zu wenden, ist die Sache des Bestsellerautors nicht. Fazit also: spannend (besonders auch als Hörbuch!), lehrreich und ein triumphaler Marketingerfolg für uns Steinmetze, den wir mit tausend millimetergenau eingepassten Grabeinfassungen und Küchenplatten nie geschafft hätten. (15.01.2019)

Schäuble,

unser Finanzminister, gilt als Musterexemplar des durchsetzungsstarken und kompetenten Fachpolitikers, fest verankert im Nirgendwo der „bürgerlichen Mitte“. Ihm fällt jetzt geradezu naturgemäß die Rolle zu, die aufmüpfigen Griechen, ihren erschreckenden Versuch, Politik für die kleinen Leute zu machen, im Namen der ökonomischen Vernunft in die Schranken zu weisen. Leider ist diese Vernunft recht abstrakt und mit vielerlei Zumutungen verbunden, da mag dann eine kleine Anekdote, eine Plauderei aus dem Nähkastchen weiterhelfen:

     Aber trotzdem erzählt Schäuble von diesem „beeindruckenden“ Vorfall
     aus den Hochzeiten der Finanzkrise. Bei einem Krisentreffen der
     Eurofinanzminister habe der damalige griechische Finanzminister
     Evangelos Venizelos nachts um drei – wieder einmal – zu einem
     Lamento angesetzt, welche Kürzungen das griechische Volk ertragen
     müsse. Und ausgerechnet der estnische Kollege, Jürgen Ligi, –


was nach einer etwas schrägen Übersetzung von „Jogi Löw“ ins Estnische klingt, nie gehört von dem Mann

   – einem eher stillen Zeitgenossen, –

ach so

     – sei da der Kragen geplatzt: „Evangelos, ich kann es nicht mehr
     hören“ habe Ligi seinen Kollegen angefahren. Der griechische
     Mindestlohn liege doch über dem estnischen.
Die Krise ist eben
     relativ, das ist Schäubles Interpretation des nächtlichen Vorfalls.


Ja, so sind sie halt, die wortkargen, melancholischen Nordländer, fressen den Kummer über ihren niedrigen Mindestlohn in sich hinein, während die undisziplinierten, aber schlauen Levantiner immer schon nichts als Theater machen:

Okay, die „Ilias“ war schon irgendwie eine anerkannte literarische Spitzenleistung, die von den alten Griechen vor fast dreitausend Jahren da rausgehauen wurde, der kulturelle Urknall des Abendlands sozusagen, aber, seien wir ehrlich, im wesentlichen bloß eine landestypisch ermüdende Abfolge von Jammern und Klagen, Weinen und Schimpfen in einem fort. Europa und Euro müssen ja scheitern, wenn der Baumangel schon im geistigen Fundament, dieser zugegeben gewieften Rhetorik von Heulsusen und Memmen steckt. Aber schauen wir uns doch mal den Anlass des griechischen Lamentos („Threnos“ müsste es ja heißen, aber sogar in der Bildungssprache haben sich diese Weicheier von ihren fitteren Nachbarn verdrängen lassen), schauen wir uns den Mindestlohn einmal näher an.

Grundsätzlich ist das natürlich ein Thema für Dünnpfeifer und Loser, der Starke fürchtet den freien Markt nicht. Der griechische Mindestlohn liegt, Stand 2014, bei 3,35 Euro pro Stunde bei Lebenshaltungskosten von 93 % vom EU-Durchschnitt (Stand 2013, steigende Tendenz). Ein Mindestlohn beziehender Grieche kann also das üppige deutsche Existenzminimum von knapp 700 Euro im Monat locker in 45 Wochenstunden schaffen. Der Este mit seinen 1,90 Euro Stundenlohn bei 80 % Kosten müsste für den gleichen Lebensstandard schon knapp 14 Stunden täglich arbeiten. Er beißt halt die Zähne zusammen wie sein Finanzminister auch, der ihm das als sozialpolitische Wohltat anpreisen muss und dabei nicht vom ewig greinenden Griechen gestört werden will.

Man kann es auch wirklich nicht mehr hören: Die Selbstmordrate steigt? Depressionen ist doch nur ein anderes Wort für mangelnde Eigeninitiative. Kinder werden ins Heim gegeben, damit sie genügend zu essen bekommen? Ist doch ein klarer Beweis dafür, dass der Sozialstaat noch funktioniert. Privatisiert endlich eure Kinderheime, dann arbeiten die noch effizienter! Die Säuglingssterblichkeit so hoch wie in einigen Ländern Afrikas? Ist doch schön, wenn Afrika auf diese Weise das europäische Niveau erreicht. Die Krise ist eben relativ und Jammern die erste bürgerliche Untugend.

Packen wir lieber an und bringen die ewigjunge Dreigroschenoper, Sie wissen schon:

     Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine
     Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines
     Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?

auf den aktuellen Stand: Was ist schon Sklavenarbeit gegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns? (10.02.2015)

Ach so
Steiler Anstieg vom tiefsten Punkt in Seckbach rauf zum Budge-Heim, tausend Mal gefahren, ich schalte routiniert herunter vom 4. in den 3. in den 2. Gang, keuche leise und fühle, wie sich das süße Gift der Anstrengung in den Beinen, in der Lunge ausbreitet. Eine Biegung noch, dann ist es geschafft. Plötzlich ein Schatten hinter, dann neben mir, ein Mann zieht mit kräftigem Pedaltritt an mir vorbei, lässt mich stehen wie Jan Ullrich in seinen besten Zeiten den Flachlandsprinter auf Hungerast. Mit irrwitzigem Tempo rast er davon, ein außerirdischer Mutant mit unmenschlichen Kräften, zumal mein entgeisterter Nachblick einen dermaßen schütteren, schon selber in Kahlheit übergehenden Haarkranz erspäht, der ganz sicher einem älteren, ja alten Träger zugehört. Dann erst höre ich, wie aus der Betäubung einer nahen Ufo-Landung erwachend, ein leises Sirren. Ach so. (12.08.2014)

Tooor! – – – Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt
Wenn man in dreißig Jahren, in der Welt der selbstfahrenden Autos und lückenlosen Vernetzung, gefragt wird „Hey, Alder, wo warst du beim 4 : 0 von Deutschland gegen Portugal bei der WM in Dings, äh, Kolumbien?“, da wird ein verlegen gemurmeltes „Keine Ahnung, mein Alzheimer, weißt du“ oder, noch lahmer, „Vermutlich beim Joggen, Fußball ist nicht mein Ding“ nicht mehr reichen. Damit kommt man in Zukunft nicht mehr durch. Okay, vor 60 Jahren, als die gefühlte Siegprämie für unsere Jungs aus einem Hundertmarkschein und einem Bildband von Bern bestand, mochte das noch angehen. Bei zwei Fernsehern auf fünf Straßenzüge und den vielen, aber immer störanfälligeren Volksempfängern muss das Leben für die meisten einfach weitergegangen sein, die Frauen putzten, kochten, wuschen, die Männer besorgten das Wirtschaftswunder. Eigentlich war Alltag bzw. gewöhnliches Wochenende (ich vermute mal Samstag, die Kirche hatte damals mehr zu sagen – nee, liege falsch, laut „wochentage.de“ war es doch ein Sonntag) und nur wenige, dafür legendäre Aktionen wie stundenlange Gewaltmärsche in die nächste Kneipe mit Fernseher hoben sich davon leuchtend ab. Nur die richtigen Fans waren Zeuge, als Deutschland wie Phönix der Asche entstieg, die anderen erfuhren es aus der Zeitung.

Diese Zeiten, die sich beinahe zur wärmenden Idylle im medialen Windschatten verklärten, wenn man es nicht besser wüsste, sind vorbei. Heute ist, wenn Deutschland WM spielt, Volksfeststimmung. So ungefähr wie Straßenkarneval in Köln, aber bundesweit und mit zehn Millionen Flachbildschirmen. Und wie beim Karneval gibts natürlich auch hier die Verweigerer, die Feiermuffel, in erster Linie Leute, die keinen Bezug zum Fußball haben. Wenn bei uns Fußball im Fernsehen kommt, wird meine Frau schläfrig. Das sei, rechtfertigt sie sich, wie vor einem Aquarium, bunte Fische ziehen nach links, bunte Fische ziehen nach rechts, da müsse man ja einpennen. So gehts mir auch, wenn Yoga im Fernsehen kommt, okay, sagen wir lieber, die deutsche Meisterschaft der Standardtänzer. Da fehlt der Bezug. Wer nie als junger begeisterungsfähiger Mensch einen schnellen Konter mit einem unhaltbaren Vollspannhammer an den Innenpfosten abgeschlossen oder den ein Kopf größeren Nachbarjungen mit einer überraschenden Körpertäuschung ausgespielt hat, dem ist das halt Aquarium. Oder Yoga. Seit einigen Jahren, und die Historiker werden streiten, ob es mehr am Klimawandel, der Flachbildschirmtechnik oder dem medial aufgeblasenen „Sommermärchen“ 2006 gelegen hat, ist die kritische Masse zum nationalen Volksfest erreicht und viele Leute werden mitgerissen, denen das passive Abseits so schnurz ist wie der Nitratgehalt von Aquariumwasser.

Wenn die Anzeichen nicht täuschen, treten wir in das Zeitalter ein, in dem auch Vorrundenspiele biografische Zeitmarken setzen wie sonst nur die Topaufreger der Geschichte. Wir sollten uns dafür wappnen. Sonst laufen wir Gefahr, dass unser mühsam angeworfenes Gedächtnis nur erschreckende Harmlosigkeiten zu Tage fördert. Machen wir den Test: 7. Mai 1945? Wohl noch nicht mal eine Chimäre im Kopf einer jungen Frau und eines ihr unbekannten jungen Mannes. Kennedymord 1963? Ein Brötchen kauend auf einem blauen Holzstuhl im „kleinen“ Kinderzimmer einer Niederräder Neubauwohnung? Mondlandung 21. Juli 1969? Vorm Fernseher, wo sonst. (Das waren noch Sondersendungen, sowas kennt die Jugend ja gar nicht. Hat man sich da nicht, in den Schulferien zumal, morgens vor den Fernseher gesetzt, all die Experten, Grafiken, Zuschauerfragen eingesogen, um spät abends erschöpft gen Bett zu wanken?) WM-Endspiel Deutschland (West) gegen Holland, Sommer 1974? Gedächtnislücke, wahrscheinlich private viewing in einem Zweibettzimmer der Frankfurter Uniklinik. Mauerfall? Ha, der Nebel lichtet sich, da lief doch das Radio beim türkischen Schuhmacher, gegenüber meiner Studentenbude in der Kreuzlinger Straße in Konstanz. „Die Grenze offen – IST DOCH SCHÖN!“ strahlte er. Es sind immer die schlichten Worte, die sich ins Gedächtnis einbrennen.

Und nun also, von mittlerweile vergleichbarem Kaliber, das erste Vorrundenspiel Deutschlands gegen Portugal in, schärfen wir es uns ein, damit es noch in dreißig Jahren geübt von den Lippen sprudelt, Brasilien. Nachmittags rufe ich Sportkamerad Stefan an, das „Du“ geht besser als gedacht. Im Verein werden selbst würdige 75-jährige Herren nach wenigen Minuten Kennenlernen geduzt, eine Sache der Gewöhnung. Sollte mich nicht wundern, wenn sich Schweini oder Poldi mit der Kanzlerin nach ein paar Kabinenbesuchen duzen, das „Sie“ wäre dort ein Kulturbruch wie ein Abendkleid ohne Ausschnitt in Bayreuth. Stefan meint, er käme zum Sport, Hans-Werner, der Übungsleiter, sei da. Erste Halbzeit selber Sport machen, zweite Halbzeit Fußball gucken, so würde er das halten. Sofort bin ich überzeugt. Die Weisheit des Alters ergreift mich, imprägniert mich gegen den schon wochenlang sinnlos tosenden Hype um die sportliche Vielvölkerschlacht. Werde also Ende der ersten Halbzeit vom Sportplatz quer durch die Stadt nach Bornheim radeln, auf erhabener Meta-Ebene, dabei Torschreie und Chancengestöhne aus offenen Kneipen und Fenstern oder sonstwoher neugierig registrieren. Da ruft Freddy an, seine Verabredung sei geplatzt, ob wir das Spiel auf der Berger gucken können, Silvia käme auch. Die Imprägnierung bröselt schlagartig weg, scheiß auf die Meta-Ebene, der Anpfiff unseres allerersten Spiels, bei dem sich Topp oder Flopp der ganzen WM entscheiden wird, darf auf keinen Fall auch nur um eine Sekunde verpasst werden.

Was sich rasch als Ding der Unmöglichkeit erweist. Freddy erscheint mit schwarz-rot-goldenem Handbändsel, dem Pendant zur roten Pappnase im Karneval. Wir finden nur noch Platz vor der Eisdiele, ein Mann schließt gerade den Fernseher an, kein Ton (nebenan ist es aber laut genug), wackliges Bild. Silvia kommt auch, wir bestellen Eis und Bier, das Spiel beginnt und trennt das Publikum in flanierende, klönende und sonstwie abgelenkte Aquarianer und echte Fans. Eine ältere Frau, Typ lustige Nudel, zieht vorbei und macht Bilder vom Straßenfest, direkt ins Publikum. „Könnt ihr euch ansehen, auf www-ichliebebornheim-de“, ruft sie beschwichtigend. Müller macht schnell das 1:0, wir wissen es schon ein paar Sekunden vorher, bevor wir es sehen.

Und hier, mag es sich auch nur um ein länger bekanntes Phänomen unterschiedlich schneller Übertragungswege handeln, findet sich die eigentliche Signatur der Fußballfeste im 21. Jahrhundert, fundamentaler als public Sommermärchen, Groß- und Kleinbildschirme, Schlandfolklore und Flaggenburkas. Oberflächlich ärgert man sich wie in der Schule, wenn der Klassenpfiffikus die Zahlenreihe, vom Lehrer als unterhaltsames Intelligenzspielchen an die Wand projiziert, blitzschnell ergänzt und alle anderen jäh aus ihren Grübeleien über das zugrundeliegende Gesetz herausreißt. Die Irritation der asynchronen Liveübertragungen geht aber tiefer. Man möchte gemeinsam einer Fußballerzählung folgen, einem Spannungsbogen wie im guten alten Roman oder im Kasperletheater, zwischen langweiligem Mittelfeldgeschiebe und tödlichen Pässen in die Tiefe, zwar stark zufallgesteuert und ohne Drehbuch, aber doch verlässlich wenigstens darin, dass die Wirkung brav der Ursache folgt. Man möchte Mozart und Fontane lauschen und erlebt dank Zweiklassentechnik die Modernisierungsschocks von „Wandering Rocks“ oder Zwölftonmusik. Der Stress der technischen Moderne hat sich in alle Winkel eingenistet und geht energisch gegen die letzten Widerstandsnester der Gemütlichkeit vor. (01.08.2014)

„… verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl“
Lebend aus dem Krankenhaus kommt man heutzutage schnell oder gar nicht.* Den Geschichten der Alten vom vielwöchigen Liegen im Krankenbett wegen eines gebrochenen Fußes oder ähnlich unspektakulärer Malaisen lauschen wir Jüngere schreckhaft wie den Erinnerungen an einen zu desaströsem Stillstand verkehrten Krieg. Alles Körperliche habe sich zurückgebildet, erzählen sie, auch die Muskeln des gesunden Beins, sodass erst Monate nach Befreiung aus der Zwangslage wieder der bewegliche Normalzustand eingekehrt sei. Inzwischen sorgt der medizinische Fortschritt Hand in Hand mit ökonomisch diktierter Durchrationalisierung aller Abläufe dafür, dass sich ein Patient, bevor er sich im neuen Umfeld häuslich einrichten kann, unversehens im alten Zuhause wiederfindet. Überdeutlich sind die Signale, die ihn auffordern, sich mit der Genesung zu sputen und das Krankenbett nicht etwa als Erholungszone und Illness-Oase misszuverstehen: das Essen, wie man es sich in Kinderheimen der 50-er Jahre vorstellt, das um Freundlichkeit bemühte Personal gehetzt oder in gleichmütiger Routine die Dauerverspätung hinnehmend, im übrigen unauffindbar, wenn man es braucht, störend (etwa frühmorgens), wenn man es nicht braucht, die Mitpatienten ein bunter und rasant durchwechselnder Haufen prekärer Existenzen. Auch was den Zweck des Ganzen, die Heilung anlangt, hat der Geist der Intensivmedizin längst auf allen Stationen Einzug gehalten mit hocheffizienter Therapie körperlicher Gebrechen, die vor diesem Ansturm schnell kapitulieren oder gar nicht. Dante abwandelnd müsste der Spruch überm Eingang zu dieser sanften Drehtürhölle heute lauten: Gesundet, die ihr eintretet, rasch oder lasst alle Hoffnung fahren.

Vor Jahrzehnten war das noch anders. Das erste Mal kam ich ins Krankenhaus mit sieben Jahren und Blinddarmentzündung. Vor der Operation, die wohl verspätet und deshalb in angenehm angstlösender Hektik eingeleitet wurde, bekam ich eine Maske angelegt mit der Aufforderung zu zählen, das Narkosegas wirkte in wenigen Sekunden. Die folgenden ein bis zwei Wochen verbrachte ich in einem Krankensaal mit geschätzt fünf oder sechs Kindern, deren Gesichter und Schicksale bis auf den Anblick des eindrucksvoll blutigen Zentralfortsatzes eines gleichaltrigen Jungen bei Gelegenheit des Verbandswechsels spurlos gelöscht sind. An die sehr knappen Besuchszeiten auch für Eltern, zwei Stunden pro Woche, die meine Mutter überliefert hat, erinnere ich mich ebenso wenig wie an das gramvolle Verfolgen des vorrückenden Uhrzeigers beim Besuch meines Vaters.

Die eigenen Erinnerungsschnipsel legen nahe, dass Krankenhaus auch ein Ort der wilden Freiheiten sein kann, ein Eroberungsland fernab der Einsortierung in die geschlossene Familienroutine. So sah ich mit neidvollem Staunen das erste ferngelenkte Spielauto meines Lebens, das ein anderer Junge von seinem Bett aus um die nackten Pfosten der übrigen Betten kurvte, dabei herrisch die Bitten um Überlassung des Weltwunders abweisend im Wissen um die Leuchtkraftverstärkung seines Solospiels. Die Anschaffung solchen Technikschunds zuhause war ja undenkbar, sodass ich mich hier wenigstens sattzusehen gedachte. Oder, schon gegen Ende der Liegezeit, der ausbrechende Heißhunger auf Frühstücksbrötchen mit Butter und sonst nichts, der zu regelrechten Esswettkämpfen mit den anderen Kindern führte um die Zahl der von den Schwestern lachend angelieferten Nachbestellungen. Daheim, das Neuland war versunken, machte es keinen Sinn und keinen Spaß mehr.

Ein unangenehm drastischer, mich überrumpelnder Moment war die vorübergehend nötige von außen eingeleitete Besorgung des „großen Geschäfts“. Das hatte ich doch lange schon manierlich zu führen verstanden, viel länger schon als aktuelle Techniken wie Rechnen und Lesen, und nun wurde täglich Hand angelegt, eingeführt und geräuschvoll verflüssigt, dass es eine Pein war. Vielleicht mitbefeuert von solcher Zentrierung auf Körperlichkeit, die seit jeher die Schamgrenze im Krankenhaus volatil macht, jedenfalls begeistert in der Durchbrechung eines Tabus, kam es eines Tages zu einem reihum ansteckenden Kollektivdurchhauen der Popos unserer knuffigen Teddybären, die doch eigentlich die Tränen über die vermissten Mama und Papa tröstend aufsaugen sollten.

Mein zweiter Aufenthalt im Krankenhaus mit 15 Jahren war dank meines verbeamteten Vaters der einzige Ausreißer in die Komfortwelt privat Versicherter und somit entschieden der langweiligste. Ich hatte beim Klassenspiel mit der Parallelklasse auf dem Olympia-Sportplatz gegenüber der Bundesbank einen Schlag aufs Knie und, viel schlimmer, ergebnismäßig derbe auf die Socken bekommen und grübelte beim Zurückhumpeln zur nächsten U-Bahn-Haltestelle darüber nach, wieso die A, die noch schwächer war als die C, und die wir noch vor Jahren mit 7 : 2 und drei blitzsauberen Toren von mir geschlagen hatten, plötzlich uns zu biss- und kraftlosen Weicheiern degradieren konnte. Dabei hatten die doch mindestens acht oder zehn Mädchen in der Klasse, kriegten also gerade mal so elf Leute zusammen, während wir als reine Jungensklasse doch im Vorteil sein müssten. Gut, wir hatten viele sportliche Vollheinis, bei denen du gleich beim Loslaufen gesehen hast, dass ein zusätzlicher Ball nur ein Verletzungsrisiko bedeuten würde. Aber der mysteriöse Zusammenhang mit den Mädchen war beunruhigend, die alte Welt war aus den Fugen. So also ungefähr die Gedankenwelt des Fünfzehnjährigen, der dann Tumordiagnose, Operation und wiederum knapp zweiwöchige Liegerei in der Klinik über sich ergehen ließ. Das war nur die gefühlte Verlängerung der Degradierung zum Weichei, die eine neue anonyme Riesenkraft nunmal verhängt hatte.

Die medizinische Versorgung war dank meiner sich bis ins Detail kümmernden Eltern hervorragend. Ich lag in einem Zwei-Bett-Zimmer mit einem freundlichen älteren Herrn, der seine Ruhe haben wollte und keinen näheren Umgang. Man überhörte höflich und wechselseitig etwaig peinliche Körpergeräusche und ergab sich ansonsten in die Apathie der Heilung. Der Klassenlehrer kam vorbei und überbrachte dem noch guten Schüler eine dicke Diogenes-Anthologie mit sorgfältiger lateinischer und altgriechischer Widmung. Die Dramatik der Entscheidung, ob es Krebs war, was da im Knie unbemerkt herangewachsen war, und in Folge Bein und womöglich Leben verlorenging, war an mir in Gänze vorbeigegangen, traute man mir nicht zu. Vermutlich hätte ich es recht gleichmütig zur Kenntnis genommen. Wozu ein vollständiges Paar Beine, wenn man schon so von der A vermöbelt wird. Und konnte man nicht hoffen, dass ohne Bein das Leben neu aufgemischt würde, das kalte Hineingleiten in die hässliche Erwachsenenwelt gestoppt? Es kam dann anders, auch damit musste man leben. Ohne Tränen der Angst oder der Freude nahm die Heilung ihren Lauf in jenem zweckmäßig komfortablen Krankenzimmer, eine stille Inkubationszeit zu heranwachsendem Schweigen, eine mönchische Vorübung für die neuen Regeln, wonach das Wichtigste abgedämpft wird zu Beiläufigstem, Verstecktestem.

Soviel Zeit für melancholisch zerdehntes Heil oder Unheil lässt das moderne Krankenhaus in der Regel nicht mehr, der Patient ist gehalten, mit einem hochgetunten Apparat durch Gesundung flotten Schritt zu halten. Einer klassischen Lungenentzündung wegen, die der niedergelassene Facharzt nicht erkennt und nicht behandelt, lande ich, aufgestört vom besorgten Expertenvater, am Sonntagmittag in der Notaufnahme der Uniklinik. In dem kleinen, aus Bett und Stuhl bestehenden und mit Vorhängen abgeschirmten Diagnoseraum warten wir nach den Basisuntersuchungen stundenlang darauf, dass der Computertomograph frei wird. Die Mitpatienten sind Stimmen, mal wispernd, mal klar die Frage-Antwort-Routinen durchgehend. Viel Rotationsschwindel in hochbeschleunigten Leben und Großstadtverlorenheit vermutlich, hoher Blutdruck, 180, habe vergessen, die Tabletten zu nehmen, Sie sollten doch liegenbleiben, nebenan eine jüngere Frau mit Fieber und komplizierter Vorgeschichte. Dann, es ist schon Abend, löst sich der Pfropf, nach der CT folgt gleich die stationäre Aufnahme.

Kein Hotel, eher Jugendherberge mit offenem Schlafsaal, das freie Bett im 4er Zimmer wird zugewiesen von der besorgten Nachtschwester. Sie warnt gleich, ich solle auf meine Geldbörse aufpassen, sie einschließen im Safe, es werde geklaut, die Polizei sei dagewesen, „und hier“, gesenkte Stimme, „kommt der Hauptverdächtige“, mein Zimmergenosse, wie ich später merke. Junger Kerl, hinkt mit bandagiertem Fuß, legt sich später angezogen zum Nickerchen bäuchlings aufs Bett, was macht der überhaupt auf einer Station für Lungenkranke? Mein Bettnachbar, prall voll Lebensgeschichte und Krebszellen, hat ein Handygespräch mitgehört, dem droht die Räumungsklage von der Mieterin, meint er, der braucht ganz schnell Geld, viel zu teure Wohnung, er habe damit geprahlt, undurchschaubarer Charakter. Er redet schnell und viel, man hat keine Zeit hier, kaum hat man sich einen Reim gemacht auf einen Menschen, ist er wieder weg, entlassen wie der junge Mann anderntags („und passen Sie auf Ihren Zucker auf!“- daher wohl der Fuß, aber wieso lungenkrank?) oder er wird verlegt wie ich, weil ein anderes Bett frei wird und die Neuen unbedingt ins 4-Bett-Zimmer sollen. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, die zerfahrene Screwball-Comedy eines demenzkranken Autors, jetzt erscheint ein sanfter Krankengymnastenazubi und übt das tiefe Atmen, dann schon Verlegung ins andere Zimmer, erstmal für eine Nacht, tatsächlich nur für ein paar Stunden, neben einem röchelnden und schlagenden Altjunkie mit Atemschlauch, der in Endlosschleife nach einem Glas Wasser ruft, zuletzt erscheint urplötzlich der Professor persönlich auf seiner Station und entlässt mich „angesichts der Bettenknappheit“ in verantwortbare Heimgenesung. Erholung habe ich jetzt auch dringend nötig. (02.09.2012)

* Das Folgende bezieht sich im Kern auf Erfahrungen eines gesetzlich Krankenversicherten. Die Rede von der „Erlebniswelt“, mit der die Werbung ihre Produkte abzugrenzen sucht, trifft hier bei grundständiger Exklusivität der zwei Typen der Krankenversorgung mal voll ins Schwarze.

Klingeltondeutsch
Sprechen heißt immer auch Klingeln. Ich schaffe mir Raum, melde etwas, nämlich mich zu Wort, mache Geräusche, die das ungesagte Chaos wie Magnete Eisenspäne homogen ausrichten. Wo aber das Sprechen sein Subjekt vergisst, sich nur noch Raum und Macht schaffen will und nichts mehr aussagen, gedeiht die Klingeltonsprache, deren Zweck die Auslösung von Respektreflexen ist und die Vermeidung von Augenhöhe mit einem Gegenüber. Für die verdichtete Schrift- form gilt dies im besonderen Maß, wie ich anhand von drei Beispieltexten erläutern möchte, zwei zufälligen Lesefunden der letzten Monate und dem Auszug eines öffentlichen und wie davon befeuert recht verbissen geführten Scharmützels, das für das Zeitalter der Internetforen typisch ist.

Nicht zufällig entstammt der erste Text dem Bereich der Kunst, wo es, wie in der Werbung, besonders wenig zu sagen, umso mehr aber zu raunen und zu klingeltönen gibt. Das über weite Strecken recht sachliche Porträt einer „großen Hoffnung der jungen deutschen skulpturalen Kunst“ in der „Kunstzeitung“ krönt und beglaubigt sich mit folgendem Zitat aus dem Ausstellungskatalog, in dem die Museumsdirektorin höchstpersönlich aufs Ganze geht:

Auf verschwiegenen Wegen…

…kannix sprechen, ist Skultpur…

erschließt Kuhn seinen skulpturalen Spannungsmomenten weite Reflexionsräume.

Oder halt seinen Reflexionsräumen skulpturale Spannungsmomente, Jacke wie Hose.

Künstler wie Betrachter finden im plastischen Bild ein Gegenüber, das leibhaftige wie mentale Reaktionen herausfordert und zu dem sie so eine persönliche Beziehung aufnehmen können.

Also du Skulptur, ich gucke, bin gerade Museum.

Damit scheint Kuhn den Faden der anthropologischen Konstante in der Geschichte der Skulptur wieder aufzunehmen und eigensinnig fortzuspinnen.

So verschwiegen kann eigentlich nicht mal eine Skulptur sein, dass sie nicht Einspruch erhöbe gegen solch intellektuelles Gewäsch ihrer Anpreisung. Sie sollte energisch um Ruhe bitten und um Abschaltung aller Klingeltöne, die aus ihr den fortgesponnenen Faden der anthropologischen Konstante macht. Wobei das Wörtchen „scheint“ im finalen Satz sozusagen einen Klingelton zweiter Ordnung darstellt, ein polyphoner Schlussakkord, der solide anzeigt, dass der Jargon tipptopp bis zum Ende beherrscht und durchgezogen wird, und jeder nahrhafte Rest von Aussage in tönendem Dämmer verlischt.

Auch die Philosophie, die sie doch eigentlich bekämpfen sollte, ist eine reichlich sprudelnde Quelle für Klingeltöne. Nicht selten ist es dabei der Klang des großen Namens, die Höchstnotierung im aktuellen Philosophen-DAX, die eine These mehr noch als Argument und Recherche beglaubigen soll. So erteilt Peter Michalzik in seiner ansonsten lesenswerten Kleist-Biografie in einem kurzen Exkurs zu dessen natürlichen Gebrauch des Wortes „Seele“ Ludwig Wittgenstein das Wort, der kraft seiner jedermann bekannten Gedankentiefe die Sache rund machen soll:

Am klarsten hat der Wiener Philosoph Ludwig Wittgenstein von der Seele gesprochen: „Wenn sich uns das Bild vom Gedanken im Kopf aufdrängen kann, warum dann nicht noch viel mehr das vom Gedanken in der Seele. Wie ist es aber mit so einem Ausdruck: ‚Als du es sagtest, verstand ich es mit meinem Herzen‘? Dabei deutet man auf’s Herz. Und meint man diese Gebärde etwa nicht?! Freilich meint man sie. Oder ist man sich bewußt, nur ein Bild zu gebrauchen? Gewiß nicht.- Es ist nicht ein Bild unserer Wahl, nicht ein Gleichnis, und doch ein bildlicher Ausdruck.“

– und kommentiert dann lakonisch:

Die Seele ist etwas, das da ist und weg, das wir kennen und doch nicht kennen, vertraut und rätselhaft.

Am klarsten ist daran noch, dass Edelphilosoph Wittgenstein die Sache für den Literaturkenner richten soll, wo der nicht mehr weiter weiß. Statt uns mit dem zeitgebundenen Gebrauch eines aussterbenden Begriffs vertraut zu machen, öffnet, ach was: entsichert er die philosophische Pandorabüchse und lässt sie krachen, die schlauen Sprachklaubereien für Kenner. Die Aura entscheidet. Wittgenstein schlägt Gadamer, Gadamer schlägt Husserl, und Husserl schlägt mittlerweile nur noch die Doktorandin Anja Müller, die das Erhellendste von allen beitragen könnte.

Angefügt werden soll zum Schluss noch ein Musterexemplar jener Durchsetzungsrhetorik, die heute zumal in öffentlichen Forenbeiträgen und Mailinglisten das polemische Temperament anzeigt. Ich hatte mich etwas unvorsichtig mit einem eigenen Beitrag auf die Lichtung der schon früher erwähnten Karl-Kraus-Mailingliste vorgewagt und wurde gleich vom Suchradar des Abwatschers vom Dienst erfasst. Meine Steilvorlage bestand vor allem darin, Obamas Live-Schaltung zur Tötung von Bin-Laden mit einer von Kraus unsterblich gemachten Kinovorführung im ersten Weltkrieg zu vergleichen, bei der ein (österreichischer) Armeegewaltiger die verheerende Wirkung neuer Mörsertechnologie mit gemütsschlichtem „Bumsti“ kommentiert. Der Vergleich hinkt natürlich, bringt aber Kommandiermentalitäten zur Deckung, die man auch unter Anmerkung der lahmen Selbstverständlichkeit, dass Obama noch den besten aller denkbaren US-Präsidenten darstellt, für skandalös halten kann. Nach bekanntem Reflexschema (kontra Obama – pro Bin-Laden – Skandal!) konnte jetzt drauflosgeschrillt und -geklingelt werden, Auszug:

Und damit es ein bisserl off-topic zu Ende geht: Ich halte Aussagen, wie die, dass der Obama einer „Live-Hinrichtung des Staatsfeindes“ zugeschaut haben soll, für – im besten Fall – links-pubertären radical chic. Dieses seltsame Verständnis der Lehnsessel-Guerilleros, Taliban-Groupies etc. für einen fanatischen Massenmörder ist degoutant.“

Lauter Nadeln, die einen selbstgemachten Fetisch spicken. Dieser Ton versammelt nicht eine imaginäre oder reale Runde, um in ihr zu diskutieren, er will nur freie Bahn. Die Geste, der Klang soll Widerstände schleifen und das freie, im Eigenen wurzelnde Wort vergrämen. (24.08.2012)

Aus dem Werkzeugkästchen geplaudert (1) – Gefahren des Steinmetzberufs
Ein befreundeter Kollege zählte mir einmal vor vielen Jahren, als unser beider Entscheidung für die Selbstständigkeit schon gefallen war, eine Liste der Gefahren auf, denen der Steinmetz ausgesetzt ist. „Wir haben doch alles“, meinte er mit jenem Unterton, der den Anflug von Heldenstolz gleich ironisch wieder ablöscht, „Staub, Lärm, Gifte in Klebern und Baustoffen, Absturz von Gerüsten und Leitern, Verletzungen durch Flex und Säge, Rückenschäden vom schweren Heben, Knochenbrüche bei umkippenden Steinen, Augenverletzungen durch Splitter. Hab ich noch was vergessen?“

Nein, eigentlich war alles Typische erfasst, obwohl die Liste natürlich beliebig verlängerbar wäre: Verkehrsunfälle, weil man viel mit dem Transporter unterwegs ist, aggressiv trauernde Kunden, Alkoholismus und Depressionen bei stumpfsinniger und gleichförmiger Arbeit, der auch ein Selbstständiger nicht immer entkommt. Die berufsgenossenschaftliche Einstufung in sogenannte Gefahrklassen, die allerdings nur das reine Unfallrisiko abbilden, spiegelt solche Drastik nicht wieder, hier landet der Steinmetz weit hinter Abbruch- und Sprengarbeitern, Zimmerleuten und Dachdeckern im hinteren Mittelfeld. Zu verdanken hat er die Kränkung seines schwelenden Kriegerpathos natürlich nur der Vergemeinschaftung zum sogenannten Bauausbaugewerbe mit so bequemen Berufen wie Maler und Verputzer, zu denen gerade der Steinmetz in der Fassadenrestaurierung ein sowieso schon gespanntes Verhältnis unterhält. Das Unfallrisiko ist aber selbst in solch schwacher Gruppe immer noch 15mal höher als im Büro (das nur bei den imaginären Klassen der ausgehenden Gefahren stärker schwankt zwischen den Extremen von, sagen wir, Investmentbankern und Malariaforschern um den Mittelwert 0 eines normalen Steinmetzbüros).

Das bringt uns zu einer wichtigen Unterscheidung: Es sind die Arbeiter, die Gesellen (und Gesellinnen natürlich), die ihre Knochen hinhalten im wörtlichen Sinne, während der nicht mitarbeitende Chef höchstens mal die Baustellen abfährt, ansonsten Kundschaft berät, mit Lieferanten fachsimpelt und, zumal im Kleinbetrieb, viele Stunden mit Bürokram befasst ist. (Eine meiner stärksten Antriebsfedern, mich selbstständig zu machen, war immer der Vergleich mit dem Chef, der sich allzuständig durch den Tag plauscht, womöglich dem Angestellten noch den Kundenkontakt verbietet, während dieser über Stunden sein Werkstück bearbeitet in Gesellschaft lärmüberplärrender FFH-Musikburgern und bei den seltenen Unterhaltungen mit Kollegen noch Gefahr läuft, einen Anschiss zu bekommen.) Nur einmal war ich Zeuge, wie mein ehemaliger Chef und Ausbilder sich spätabends unter Zeitdruck beim Ausschneiden einer Granitplatte mit der hochschnellenden Flex in Lippe und Nase schnitt. Die Blutung war erschreckend, ließ aber den Gesellen, der sich gerade noch bei mir hinter verschlossener Tür über ihn und die miesen Arbeitsbedingungenen Luft gemacht hatte, blitzschnell zu Hilfe eilen und den Verletzten mit umwickeltem Handtuch ins Krankenhaus fahren – die Reflexe der Kleinfamilie funktionieren eben auch bei mängelbehaftetem Vorstand. Tage später sah man die Narbe kaum noch, geändert hatte sich nur, dass jetzt alle Winkelschleifer Schutzhauben hatten.

Erstes Fazit also: Selbstständige arbeiten sicherer, auch im Ein-Mann-Betrieb. Sie sitzen oft am gefahrlosen Schreibtisch, können die eigenen Arbeiten ohne Zeitdruck planen und Gefahrenquellen wie Gabelstapler, Hantieren mit Unmaßplatten und ähnliches meiden. Mit einem besonderen Teil, von dem schon die Rede war, werden sie es aber immer zu tun bekommen, sofern sie überhaupt praktisch arbeiten, dem Winkelschleifer. Diese „Handsäge“ mit ihren 200 Umdrehungen pro Sekunde entfesselt schon in kleiner Ausführung Kräfte, die bei Verkantung oder nichthomogenem Material der Stärkste nicht mehr beherrscht. Bei der größeren Version, die auf Baustellen routiniert zum Einsatz kommt, reitet man endgültig den Tiger. Vom eingangs zitierten Kollegen stammt die Anekdote, in der sich das rotierende Blatt der durchgehenden Maschine in einer Art Harakiri-Bewegung von unten nach oben durch den Pullover hindurch in den Leib schneidet, Haut, Fleisch und Wolle blutig mischend, sodass die Chirurgen ein paar Stunden zu tun haben, um alle Fussel wieder herauszuzupfen.

Nun hat wohl fast jeder Beruf seine blutige Schauerfolklore, in der ein Schornsteinfeger vom Dach fällt, den Gerüstbauer eine Bohle erschlägt und die Lehrerin vom Amok laufenden Schüler erschossen wird. Die wahren Gefahren schleichen sich eher leise und über Jahre an und schlagen unerwartet zu. Der jüngere Meisterschulkollege hat plötzlich Staublunge, die man als Teil des Prüfungsstoffs schon wieder vergessen hatte, und bekommt Berufsverbot. Ein anderer fehlbelastet den Rücken immer wieder derart, dass er lange ganz ausfällt und sich mit Massagen und Fitness-Studio die Berufsfähigkeit erst neu erkämpfen muss. Im Alltag macht nahezu jeder Steinmetz eigene Erfahrungen mit Knochenbrüchen oder Quetschungen, Augenverletzungen und Fingernagelverlusten. Solche meist kleineren Wundmale einer stofflichen Befassung, die längst in unaufhaltsamem Schwinden aus dem Arbeitsleben begriffen ist, verleihen dem Handwerker und im Besonderen seiner archaischsten Ausprägung, dem Steinmetz, beinahe einen Anflug melancholischer Würde. (27.02.2012)

Permanenter Kreisel
Ein Auto in der Stadt zu fahren ohne triftigen Grund, ist inzwischen zum sicheren Zeichen von Wohlstandsverwahrlosung geworden. Sie mag sich noch differenzieren vom aufgeblasenen SUV, dem stählernen Gegenstück zum Luftbrötchen aus Chemie und etwas Mehl, bis hin zum flinken Kleinwagen, der immerhin der Parkplatzsuche etwas den Schrecken nimmt. Alternativen zu den Leichenbergen an totem Kapital, toter Zeit, toter Umwelt und nicht zuletzt metapherfrei zerquetschten Verkehrsopfern, die der Autoverkehr in Jahrzehnten produziert hat, zu dieser ganzen morbiden Aura, die weder polierter Lack noch prozessorgesteuerte Spielereien überspiegeln kann, sind der öffentliche Verkehr und insbesondere das Fahrrad, das an Boden gewinnt. Nicht nur, dass hier der Körper, sonst oftmals bloßer Hirnappendix in aufgezwungenem Sitzkrampf, zu seiner natürlichen Bestimmung zurückfindet, nämlich durch die Savanne zu streifen, nicht nur, dass der ökologische Abdruck dem einer Insektentarse zu einem Brachiosaurenfuß gleichkommt, man ist auch einfach schneller unterwegs.

Das Fahrrad verbindet elegant die Flexibilität des Fußgängers, der durch engste Lücken schlüpft, mit vervielfachtem Tempo, das auf kurzer Strecke zwischen zwei Ampeln mit dem Auto locker mithalten kann. Ein uneinholbarer Vorsprung kommt dann zustande, wenn Radfahrer das Ampelrot zum Vorfahrt-beachten-Schild umdeuten, überfahren und sich in den fließenden Verkehr einfädeln. Sie begehen damit nach derzeitiger Gesetzeslage einen Rotlichtverstoß, der umstandslos mit saftigem Bußgeld und Punkten in Flensburg geahndet werden könnte. Tatsächlich bleiben sie hierzustadt meist unbehelligt, zum Leidwesen von ein paar neidischen Autofahrern und der FDP, die sich zuletzt mit Plakaten gegen angebliche Fahrradrowdys als politische Repräsentantin von SUVs und Luftbrötchen bestätigt hat. Auch hier wäre es höchste Zeit, wie schon bei der fast flächendeckenden Aufhebung des Einbahnstraßengebots das Regelwerk der schwarmintelligenten Praxis anzupassen, indem am besten gleich die ganze Flickschusterei von Einzelbestimmungen ersetzt wird durch eine Art historisches Toleranzedikt: Fürs Fahrrad gelten die Regeln des permanenten Kreisels.

Der Kreisverkehr, nach dem Krieg auch in Deutschland noch weit verbreitet, ist ab den Siebziger Jahren rasch von ampelgerechten Kreuzungen verdrängt worden, und zwar wegen „Missverständnissen bei den Berechnungsgrundlagen“ (Quelle immer Wikipedia). Ein allerliebster Grund für tausende Tote und aberhundert Millionen Euro Verschwendung! Bevor wir jetzt zur Deutschen Bibliothek radeln und anhand der Quellen die Verknotung von Rechenfehlern und Schlamperei samt Schuldzuweisungen enttuckeln, stellen wir uns lieber den Geist von Amtsstuben und Lokalpolitikern, ja, der mehrheitlichen Bevölkerung vor, die ihnen nicht in die Arme gegriffen hat. „Lassen wir doch“, spricht der Geist auf unserer kleinen Séance, denn er ist zum Glück weitgehend dahingeschieden, „lassen wir doch die Franzosen Kreisel fahren in ihren schwammigen Rostlauben, wir bauen unsere rechtwinkligen Ampelkreuzungen mit bewährter Siemensboschqualitätselektrik, und außerdem ist es ja wissenschaftlich bewiesen.“ Heute werden für sehr viel Geld Kreuzungen zu Kreiseln umgebaut, bei Neubau in der Regel diese vor jenen bevorzugt, sodass die Zeiten nicht mehr fern scheinen, in denen Ampeln wie Dampfloks nur noch aus Liebhaberei betrieben werden.

Das Fahrrad übernimmt, so der Vorschlag, die Regeln des fortschrittlichsten Verkehrskonzepts „Kreisel“ und fädelt sich unter Beachtung der Vorfahrt in alle Ströme ein, auf Kreuzungen und Bürgersteigen und allen Mischformen, die dem Fußgänger zugänglich sind, zu dem sich der Radfahrer in Sekundenbruchteilen verwandeln kann. Es wird endlich auch regeltechnisch zum wahren Mobil, das nichts mehr aufhält. Und da es immer etwas Zeit braucht, bis sich eine vernünftige Regelung offiziell durchsetzt, und dann noch ein paar Jahre, bis sie auch ins Bewusstsein der in allem langsameren Autofahrer durchgedrungen ist (siehe Aufhebung des Radwegezwangs), rufen wir doch heute schon dem grämlich blickenden Ampelgestoppten ein fröhliches „Noch nix vom permanenten Kreisel gehört?“ zu und überlassen ihn seinen Assoziationen zwischen Kamasutra und, ist er vom Fach oder Dauergoogler, dem Kunstradsport, während wir schon drei Straßenecken weiter sind. (26.01.2012)

Friedhofsgeschichten (2) – „Komm, ins Offene!“
Dafür, dass der Tod nicht stumm mache, sondern auch Gelegenheit gebe, ein Leben in einem Nachruf, einer letzten sprachlichen Vignette zusammenzufassen, stehen vielerorts Grabsprüche ein, die im besten Fall denjenigen Trost verschaffen, die ohne einen vertrauten Menschen weiterleben müssen. Sie variieren von detailreichen und grabsteinfüllenden Lebensgeschichten, die sonst nur gedruckt oder gepostet zu lesen sind, letzten Worten, die sich teils der Verstorbene noch selbst ausgedacht hat und häufig das Lächerliche streifen, bis hin zu markanten Zitaten aus Liedzeilen oder klassischer Literatur. Hier besonders birgt das Spannungsfeld von kontextloser Kürze, Intimität des Nachrufs und jedermann zugänglicher Öffentlichkeit das Risiko des saftigen Missverständnisses.

Eine sympathische ältere Witwe, durchaus literarisch bewandert, zeigte mir einmal mit der Geste faszinierten Ekels, den man einem formschönen Hundehaufen entgegenbringt, einen Grabstein in der Nähe ihres Familiengrabes. Die Inschrift bestand aus einem männlichen Namen und der Zeile „Komm, ins Offene, Freund!“ Das seien zwei, sie suchte nach Worten, „Homos, Sie wissen schon“, den Spruch habe der Freund dem Verstorbenen gewidmet, es sei unerhört, „und das auf einem Friedhof!“

Es dauerte eine kleine Weile, bis bei mir der Groschen fiel, und ich den ganzen klaffenden Abgrund hinter dem Hölderlinschen Premiumzitat erkannte (eine Schwäche, die schon zu Pubertätszeiten die Aufnahme in den inner circle der dauerkichernden Logenbrüder der Zweideutigkeit verhinderte). Hatte man aber einmal den Schalter der Perspektive umgelegt wie beim Anblick eines Vexierbildes, so war klar, dass der Tatbestand der öffentlichen Schweinigelei erfüllt war, und wenn der Spruch wirklich von Hölderlin war, womit ich aber bei ihr nicht recht durchdrang, umso peinlicher für Hölderlin.

Ach, was für ein wunderbar zwielichtsatter Ort ist doch der Friedhof, ein Jungbrunnen, dem runzlige Hochlyrik als praller Pennälerwitz entsteigt, und der letzten Worten den Pathosstaub abspült, bis die jugendfrische Phantasie, die mit allen Worten spielen kann, neu erblüht. (30.12.2011)

Wunder des Lenkens
Beim Anblick der fast quer zum Bordstein eingeschlagenen Räderam vor Tagen eingeparkten Wagen kommt fast unmittelbar nach der Besorgnis, ob das dem Auto schadet, und der Vornahme, das Thema später zu googlen (was dann zur erwartbaren Verwirrung im Dickicht zahlloser Forenbeiträge der Halb- und Viertelexperten führen wird) plötzlich einbrechend wie durch ein Loch im Asphalt die Erinnerung an die Kindheit und an den nachhaltigen Zauber, den bewegliche Räder der zumeist nur starr geradeaus fahrenden Matchboxautos ausgelöst haben. Zunächst kam diese umstürzende Innovation durch Druck von oben während des Fahrens auf das eine oder andere Vorderrad zustande, was mir heute als weit größeres technisches Wunder erscheinen will als das nachfolgende, wie von Außerirdischen kommende Non-plus-Ultra der Spielautos, ein Silberpfeil-Rennwagen mit Lenkrad und großen, freistehenden Rädern. Der reiche Onkel hatte es zum Geburtstag geschenkt und damit den Schlusspunkt gesetzt allen scholastischen Richtungsstreits mit den Brüdern über die Rangfolge von Modellen und Farben.

Aber mit Außerirdischem kann man nur eingeschränkt spielen, die Größe und Spurweite passte nicht zu Straßen und Autobahn, vor allem aber nicht zur übrigen Flotte der zu grauer Masse abgesunkenen Einheitsmodelle, die mit der Zeit wieder an Charme und Individualität zurückgewannen: hier ließen sich die Vordertüren öffnen, dort sogar die Motorhaube, den weißen Ford fuhr abgewandelt Papa, der mackengetüpfelte Citroen verströmte das Charisma des Fremden. Nach ihrer silberfarbenen Kulmination verloren die beweglichen Räder nach und nach ihr Alleinstellungsmerkmal und wurden Spieloptionen unter vielen.

Später erneuerte sich das verblasste Wunder des Lenkens höchstens noch beim Go-Cart-Fahren (ein Fahrrad lenkt ja nur mit einem Rad und zählt deshalb nicht). Erst das Go-Cart, verpönt bei uns aus unerfindlichem Grund und deshalb nur bei Freunden zu fahren, war wieder eine richtige Lenkmaschine mit richtigem Lenkrad, ein Silberpfeil ohne Abstumpfungs-effekt.

Das Fahren eines richtigen Autos dann entzauberte das Lenken endgültig, unter den vielen Aktionen, die nahezu automatisiert und zeitgleich ablaufen müssen, ist es die einfachste und achtloseste. Und heute endlich, in der prozessorgesteuerten Moderne, erscheint in kulturpessimistischer Laune absehbar, dass die primitiven Wunder der Mechanik, wo die Wirkung noch einer halbwegs einleuchtenden Ursache folgt, auch dem Kind als Förderhemmnis entzogen und in den musealen Glaskuben begraben werden. (30.11.2011)

Reisenotizen (2) – Prag
Reiseziele, mit denen man renommieren kann, werden auch für normalsituierte Bewohner unserer Wohlstandszone zunehmend rar. Kallheinz vom Tischtennistraining, der einem mit knapp Achtzig die Vorhand immer noch unerreichbar ins Eck löffelt, war letztes Jahr beim whale watching vor der Küste Südafrikas, die Schwippkusine Clara reist mit einer Freundin, noch rechtzeitig vor dem Burnout, entlang der Karawanenspuren der alten Seidenstraße, und auf einem Geburtstag unter jungen Leuten wird angeregt über eine mehrmonatige Backpacker-Tour durch Indien diskutiert. Erwähnt man nun leichtfertig die Absicht, für ein paar Tage nach Prag zu fahren, stellt sich heraus, dass alle schon in Prag waren und alle Prag schön fanden.

Begibt man sich in der gebotenen Beiläufigkeit, die auch einem Besuch in Berlin oder München angemessen wäre, an einem Sommerwochenende nach Prag, so überrascht doch, wie eine Stadt, die sich immerhin dem Massentourismus so radikal ausliefert wie kaum eine zweite, ihre Gelassenheit bewahrt. Prag als Einkaufskorb mit Dinnerkreuzfahrt, Großer Burgtour und Schweinebraten vor Stilfassade kann sich der gewöhnliche Prager nicht leisten, er geht, ist er nicht für Dienstleistungen engagiert, seiner eigenen Wege außerhalb der Trampelpfade. Zahlenmäßig den Freizeitinvasoren klar unterlegen, kann man ihn in Gruppenstärke am ehesten noch in Straßen- und U-Bahn oder etwas entlegeneren Parks antreffen. Diskussionen wie in Berlin, wo Politiker die Hotelbettenzahl begrenzen wollen zum Schutz des Milljöhs, scheinen im viel stärker touristengefluteten Prag undenkbar. Hier unterwirft sich eine ganze Stadt der goldenen Kaufmannsregel, dass nur die aufpolierte Ware den bestmöglichen Preis erzielt.

Die passende Anreise nach Prag ist die Fahrt mit dem Bus und inmitten älterer Eheleute, die allesamt eine fantastische 4-Tages-Reise beim großen Lidl-Preisausschreiben gewonnen haben. Um halb 5 morgens fahren wir los und dem Veranstalter gelingt das verblüffende Kunststück, im rund 420 km entfernten Prag noch am selben Abend gegen 8 Uhr anzukommen. Dabei werden meine Gefährtin und ich ununterbrochen von zwei hinter uns sitzenden Damen unterhalten, das heißt, nur eine redet, und wenn das Perpetuum mobile zu stocken droht, wirft die andere ein, fragt etwas, ermuntert. Wir erfahren, dass der Geburtstagsgeschenkkorb der Firma nach eigener Internetrecherche 33 Euro und 50 Cent wert war, was die Beschenkte positiv überrascht hat. Und wären wir nicht zwischendurch etwas unaufmerksam, wir wüssten am Abend wirklich alles über die schwierige Ehe mit Hermann, die topp gepflegte Frau des angesagten Formel-1-Stars und tausend andere Moleküle eines Lebens- und Medienstroms, der keine Unterbrechung kennen darf. Die rasch gestellte Diagnose der Logorrhoe trifft das Phänomen wohl nur halb, nämlich seine pathologische und störende Seite. Damit nicht erfasst wird die besondere Mischung aus Kunststück und Barbarei, der vielleicht am ehesten jene Trinktechnik nahekommt, bei der das Wasser direkt und ohne zeitaufwendiges Schlucken in die Kehle rinnt. Wer diesen Trick beherrscht, ist endlich bewunderter Bestandteil der allseitigen Schwemmkommunikation und den Ballast des Prüfens und Schmeckens los.

Drei etwas längere Aufenthalte verzögern die ohnehin von zahlreichen Toiletten- und Rauchpausen unterbrochene Anreise zusätzlich. Zum einen macht der Bus exakt die Dreiviertelstunde Halt in Karlstein, vor der bekanntesten Burg Böhmens, die der Weg hinauf zur Burg und unmittelbar folgende Abstieg benötigt. Am Nachmittag dann erreichen wir nach abenteuerlichen Fahrmanövern durch enge böhmische Dorfgassen ein Gasthaus mit großem Speisesaal, wo uns der Veranstalter generös zum Mittagessen einlädt. Bevor das erstmalig und exklusiv von einem 1-Sterne-Koch zubereitete Essen serviert wird, klassischer Knödelschweinebraten, läuft noch ein smarter Verkaufsprofi zu Hochform auf. Mit der Beredsamkeit eines Hütchenspielers preist er seine Billigreisen an und dirigiert im Anschluss daran eine Verlosung, bei der fast jeder mitmacht. Ich ziehe den schon gezückten Stift erst im letzten Moment unter dem skeptischem Blick meiner Begleiterin zurück. Zu gewinnen gibt es natürlich die schon präsentierten fantastischen Reisen zu einem Luxushotel in der Türkei oder Österreich, und zwar zu einem nochmals reduzierten Spottpreis. Die Gewinnquote ist hoch, da gibt es nichts zu meckern, manches Ehepaar am Tisch gewinnt zweifach und wird wie alle anderen genötigt, die Zahlung sofort zu quittieren. Kostenlos spät zu Mittag gegessen, eine Billigreise gewonnen zu Zielen, die einem vorher unbekannt waren, und nach 13 Stunden so gut wie in Prag angekommen – die Stimmung steigt.

Und droht wieder zu kippen, denn, wir fahren schon auf einer jener Schnellstraßen in den Außenbezirken Prags, deren riesige Reklameriegel mit ihren Preisparolen den nicht mehr so neuen Systemwechsel anzeigen, wir haben in diesem Nirgendwo noch einen weiteren, diesmal rätselhaften Aufenthalt. Zum ersten Mal kocht Unmut in uns knödelsedierten Gratisrittern hoch. Gerüchteweise warten wir auf zwei Konvoi-Busse, dann auf das betriebseigene Buchungspersonal in den noch immer unbekannten Hotels. Offenbar laufen im Hintergrund komplexe und hakenschlagende Operationen ab ähnlich den Leerverkäufen an der Börse, wo nichts lukrativer ist als der Handel mit Nichts. Schließlich sinken wir alle abends doch noch in unser von drei auf vier Sterne umgebuchtes Bett, das wir uns von der Reiseleiterin noch im Bus aufgurren ließen („das kleine Extra sollten Sie sich gönnen“). Es scheint für einen Moment, als schuldeten wir dem unbekannten Makler Dank dafür, dass er in zäher Arbeit einen Weg gefunden hat, wie wir uns lohnen.

Anderntags dann Prag – eine schöne Stadt, was uns nicht wirklich überrascht, vor allem aber voll. Altstädter Rathaus, Synagoge, Karlsbrücke, Burg – standhalten oder fliehen? Auffallend sind die Bettler, von denen es im Reiseführer hieß, sie seien verboten. Es sind aber einige wenige da, handverlesen wohl wie die Karikaturisten und Kunstgewerbler auf der Karlsbrücke. Die an Köpfen zahlreiche, dennoch knappe Kaufkraft soll nicht ungeordnet abgeschöpft werden. So bieten sie eine nie gesehene Gegenleistung, ein Schauspiel, eine schmerzende Yogafigur, liefern sich so akrobatisch wie schutzlos auf den Knien, den Kopf im Staub, die Hände mit der Schale dramatisch hochgereckt wie eine Gottesanbeterin, der Passantenflut aus. Der Widerspruch zwischen äußerster Körperdisziplin und Demut macht eher schaudern als freigebig. Vielleicht, denkt sich der Hartherzige, sind es professionelle Schauspieler oder Akrobaten, die es nicht nötig haben.

Was auffallend fehlt in Prag sind die Fahrradfahrer, also die selbstbewusste Mobilität jedes einzelnen Bürgers. Tatsächlich sieht man mehr von diesen grotesken Elektro-Stehrollern, mit denen Stadtführungen veranstaltet werden, als Fahrräder. Verkehrsplanerisch nicht vorgesehen und so zu hohem Risiko verdammt, bedürfte es für den Anfang nur eines rebellischen Impulses derart, wie er in New York zu Fixies ohne Bremsen geführt hat. Leider scheint dieser aber den Pragern völlig abzugehen. Die samtene Revolution hat sie so erschöpft, dass für die neue, die ölige Revolution gegen die Touristenbesatzung keine Kraft bleibt. (06.10.2011)

Kinder und Narren…
In Seckbach ist manchmal ein Mann zu sehen, der in vergangenen Zeiten der Inkorrektheit wohl als Dorftrottel bezeichnet worden wäre. Ausgestattet mit einer roten Warnweste regelt er den Verkehr, sobald ein Auto des Weges kommt. Dann rudert er mit den Armen und winkt lebhaft durch, seine Miene ist freundlich, häufig lacht er. Für den Autofahrer ist Seckbach meist der Stau in der Wilhelmshöher Straße morgens auf dem Weg in die Stadt und abends zurück ins Umland. Den Anwohnern wird es wie ein Hochwasser vorkommen, das für Stunden alles lahmlegt, und gegen dessen giftige Emissionen man Türen und Fenster verbarrikadieren muss. Dann ist es wieder friedlich im Dorf, alle grüßen sich und klopfen auch gelegentlich dem gestikulierenden Narren auf die Schulter. Das Antlitz des freundlichen Dorfs im Ausnahmezustand ist der Dorftrottel als launiger Verkehrspolizist.

Im benachbarten Bornheim, das schon lange kein Dorf mehr ist, irrt am Markt ein junger Mann herum, für den sich die Bezeichnung „Trottel“ schmerzhaft verbietet. Anscheinend halb gelähmt schleppt er sich in bizarrer Haltung über den belebten Platz und ruft mit heiser gewordener Stimme in endloser Wiederholung, er wünsche einen Teller Suppe, er habe Hunger. Den freundlich angebotenen Döner ignoriert er und wiederholt energisch seinen Endlos-Refrain wie ein Kleinkind, das einen Kraftausdruck aufgeschnappt hat. Die Integration kann nicht gelingen, der Mann nervt auch dann noch, wenn er in eine Baustelle hineinzustolpern droht. Nach ein paar Tagen verschwindet er wieder, und nicht nur die Café- und Ladenbesitzer atmen auf. Eher flüchtige, großstädtische Erscheinung, sagt auch dieser Narr die Wahrheit. Urbaner Überfluss mit immer dichter aufsprießenden Bäckereien, Bioläden, Cafés und Imbissständen hat längst seinen eigentlichen und vitalen Anlass der Lächerlichkeit preisgegeben, er möchte Kaufkraft und keinen Hunger. Unsatt soll er schon sein, der Konsument, und auf fiebriger Suche, die Vielzahl seiner Mängel durch Kauf zu vermindern. Der verbannte Hunger macht derweil Karriere zur hergeleierten Provokation eines Irren. (13.09.2011)

Der Steinmetz in der Literatur (3) – Die Stimmen des Flusses
Ein so seltener Beruf wie Steinmetz hat keine bedeutenden Spuren in der Literatur hinterlassen, sollte man meinen. Hat er aber doch, wie meine lose Serie von Buchvorstellungen beweisen will. Für was steht der Steinmetz in der Literatur, ist er Projektionsfläche für Sehnsüchte und Ängste, steht er für rohe fäustelschwingende Kraft, leutselige Handwerker-Biederkeit oder zu Routinearbeiten abgesunkene Künstlernatur? Und was hat das mit der Wirklichkeit zu tun, wie gut hat der Schriftsteller überhaupt recherchiert?

Es gibt Bücher, die trägt man im Kopf herum wie Musik oder die frische Erinnerung an ein unerwartet anregendes Fest, nur über eine längere Zeit hinweg. Allmählich entsteht eine exotische Parallelwelt zum Alltag mit erst fremden Menschen in fremden Gegenden mit fremden Problemen, die dann gutartig in ihrem Leser-Wirtstier Fuß fassen und sich ausbreiten. Ein solches Buch ist der Roman „Die Stimmen des Flusses“, in dem der katalanische Autor Jaume Cabré auf fast 670 Seiten Ereignisse und Bewohner eines kleinen Bergdorfs in den Pyrenäen über 60 Jahre hinweg von der Francodiktatur bis heute schildert.

Erste Vertrauensperson und Verbündete des Lesers bei seinem kunstvoll behinderten Versuch, das verwickelte Geschehen aufzuklären, ist die Lehrerin Tina Bros. Ihr übertragen wir anfangs so gerne das volle Risiko der investigativen Anstrengungen, wie wir am Ende über ihren folgerichtig gewaltsamen Tod erschrecken. Cabré schickt seine Heldin auf den schmerzhaften Parcours der Wahrheitssuche, in dessen Verlauf sorgsam Vertuschtes Zug um Zug aufgedeckt wird. Dabei spielt ein Großteil des Geschehens, das virtuos auf zahlreichen Zeitebenen vor- und zurückgeblendet wird, während einer hierzulande eher unbekannten Phase des Francoregimes am Ende des Zweiten Weltkriegs, aus dem es sich ja herausgehalten hat.

Faschismus und Kirche, also weitgehend die alte autoritäre Ständegesellschaft, haben im Bürgerkrieg gesiegt und verfolgen nun jeden aufflammenden Widerstand bis ins letzte Dorf. Reiche Grundbesitzer erstellen Todeslisten, die von bezahlten Killern halblegal abgearbeitet werden, Kinder werden als Geiseln erschossen, Familienväter, die sich im eigenen Haus über Jahre verstecken, denunziert und, notdürftig als Selbstmord getarnt, am nächsten Baum aufgehängt.

Wunderbar eindringlich entwirft Cabré seine Figuren in einem Umfeld, in dem Überlebensinstinkt und Gleichgültigkeit auf mühsame Überwindung der Angststarre und Widerstandswille prallen. Da ist der Lehrer, der als Freund des skrupellosen Bürgermeisters umso besser den Aufständischen heimlich zuarbeiten kann. Da ist die junge Grundbesitzerin, die für ihre Blutrache problemlos einen Vollstrecker findet. Und da ist Serrallac, der Steinmetz des Dorfes, ein Anarchist, der Bakunin liest, aber kein Kämpfer, ein kleiner Handwerker, der mühsam seine Familie über Wasser hält und das Gedenken an die Toten – Mörder, Mitläufer und Opfer – auf steinernen Grabplatten bewahrt.

Hier, bei den Szenen, die den Dorfsteinmetz bei der Arbeit auf dem Friedhof zeigen, spürt man die Sympathie des Autors für seine Figur. Die Namen der Toten, die der Steinmetz unter Tränen der Wut und der Trauer einmeißelt, sind unauslöschlich, sie können warten, bis ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Der Steinmetz, darin dem Schriftsteller ähnlich, erzeugt Nachwelt, die eine verkehrte Gegenwart mit vertauschter Orientierung neu bewerten wird. Und muss Serrallac doch einmal einen pompösen Gedenkstein für die Sieger meißeln, sorgen seine Freunde aus dem Untergrund für dessen unfeierliche Sprengung. Gewalt, der bewaffnete Kampf, ist seine Sache nicht, dazu ist er zu tief mit seiner Familie, dem Beruf, der Dorfgemeinschaft verwoben. Sein Widerstand ist untergründig und ohne Opferbereitschaft, aber zäh und dauerhaft wie der Stein, den er bearbeitet.

Höchstes Risiko dagegen geht die Hauptfigur und versteckter Held dieser Zeitebene, der Lehrer Oriol Fontelles, um dessen lügenbereinigtes Andenken Tina Bros viel später mit den dunklen Mächten vom Big Business kämpft. Von Frau und Kind verlassen, macht ihn die Verzweiflung zum Mann der Tat in einer damals gar nicht so seltenen Doppelexistenz als Falangist und Widerstandskämpfer. Als einsamer Attentäter scheitert er allerdings so jämmerlich, dass man ihm die zupackende Art des Schreinergesellen Georg Elser, denkmalwürdigster aller Handwerker, wünschen möchte. Der Tod des Diktators ist – oder wäre es wenigstens um ein Haar geworden – ein Geselle aus Deutschland, und kein Lehrer, kein General, kein Freiherr oder sonstiger Angehöriger der sogenannten Elite.

Mit seiner an García Márquez erinnernden Fabulierlust, gewürzt mit satirischer Schärfe, die besonders die katholische Kirche mit verblüffender Insiderkenntnis zu spüren bekommt, gelingt es Cábre, den Spannungsbogen wie bei einem wirklich guten Krimi bis zur letzten Seite zu halten. Am Ende hat Tina zwar in Jaume Serralac, dem Sohn und Betriebsnachfolger des alten Steinmetz, einen Freund und Verbündeten gefunden. Er trägt aber fortan die Last der Aufklärung, als die wir den vorliegenden Roman ansehen können, allein. Der Steinmetz mit gleichem Vornamen wie der Autor muss es also richten und wird so endgültig zum alter ego geadelt.

Ich fasse zusammen: Der Identifikationsfaktor der beiden schlauen und eigensinnigen Steinmetze, Vater und Sohn, ist schon fast beängstigend hoch. Geschick und zähe Ausdauer, mit der sie altem Terror und neuer Propaganda widerstehen, haben sie im Umgang mit ihrem Werkstoff gelernt. Lasst ihnen etwas mehr Bildung zukommen und voilà, sie entwickeln sich zu veritablen Schriftstellern. Mit Macht drückt Cabré seine Lieblingsnebenfiguren ans auktoriale Herz. Es ist so schön, dass der leise Wunsch aufkeimt, sich beim nächsten Buch in unserer kleinen Reihe mit einem ausgepichten Drecksack befassen zu dürfen. (E.T.A. Hoffmann hat ja bekanntlich im „Fräulein von Scuderi“ mit dem Fehlgriff bei der Besetzung der Rolle des Bösewichts –  Goldschmied statt Steinbildhauer! – die Chance vermasselt.)

Im Realitätscheck schneidet Recherchemeister Cabré erwartungsgemäß gut ab, er kennt sich auch im Detail aus. Mit einer „Säge“, die Jaume Serralac vergessen hat, auf den Friedhof mitzunehmen (Seite 79), lässt sich aber vor Ort kein Stein bearbeiten. Oder ist es ein Fehler der ansonsten vorzüglich lesbaren Übersetzung von Kirsten Brandt? Hier hätte man die Wahl, ausbildungskorrekt von „Trenn-“ oder „Winkelschleifer“ zu sprechen oder umgangsprachlich von einer Flex. Liebe Leute vom Insel-Verlag: Gebt mir einen Beratervertrag bei geplanter Neuauflage und solche Klöpse werden garantiert bereinigt! (14.07.2011)

Jaume Cabré: Die Stimmen des Flusses. Roman.

Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt.

Insel-Verlag 2007, 669 Seiten.

Auch als Suhrkamp Taschenbuch erhältlich.

Karl Kraus und der Klospruch
Karl Kraus ist als wehrhafte Sprachgroßmacht mit zielgenauem, von leichter Präzisonswaffe bis schwerer Artillerie reichendem Arsenal gegen die Verfertiger wohlfeiler Wortware und jene Frisörillusionisten der Zeitung, die auf Glatzen Locken drehen, unvergessen. Wer der heute grassierenden wasserklaren, von allen Eigenheitsspuren gereinigten Diktion angelsächsischen Typs überdrüssig ist, mag sich an seinen Substantivclustern und syntaktischen Labyrinthen schweißesstolz abarbeiten, um dazwischen immer wieder mit wunderbaren Pointen belohnt zu werden.

Karl Kraus zu lesen ist also harte Arbeit, und so tat ich das, was der moderne Mensch in diesem Fall immer tut auf der Suche nach Mitträgern einer geistigen Last: ich schloss mich einer Mailingliste an. Gleich wurde ich Zeuge eines recht esoterischen Gesprächs zwischen einer Handvoll akademisch geschulter Experten, die mal kostbare Fundstücke tauschten und kommentierten, mal naive Journalismus-Eleven vor branchenüblicher Zitatverhunzung und Schändung des Meisters bewahrten, mal sich in der Erörterung sehr entlegener und deshalb sehr langweilender Spezialfragen erschöpften (die Zahnpastamarke des Onkels mütterlicherseits war allerdings noch nicht Thema).

Kürzlich nun stellte einer dieser Experten einen wirklich schönen Lesefund aus der „Fackel“ Anfang der Zwanziger Jahre vor, der den Sprachgroßmeister scheinbar auf gefährlich dumpfen Abwegen, ja Abtritten zeigt,

DAS DRITTE WORT – Keine Rücksicht auf die sittlichen Empfindungen aller Ausgesperrten, nur das Grauen vor einem stofflichen Interesse, dessen Unzuständigkeit vor der Kunst ich eben dartun will, verhindert mich, den genialsten Reim, das vollkommenste Gedicht hieherzusetzen, das in deutscher Sprache entstanden ist, von einem Kretin oder Tier gelallt, das in diesem unbewachten Moment ein Genie war. Vollkommen darum, weil es, als der bündigste Ausdruck der vulgärsten Vorstellung von erotischem Glück, in einem beispiellosen Zusammenklang der Sphären nur drei Worte enthält und wie der gemeine Sexualwille mit diesem „Ist gut“ noch nie so ein für allemal ein Diktum gefunden hat, gegen das es keinen Einwand und über das hinaus es keinen Ausdruck gibt.

und frug dann schalkhaft in die Runde, ob es bei der Fahndung nach dem dritten Wort eine Alternative zur Lieblingsvokabel des „Josefine Mutzenbacher“ – Romans gäbe (einer Pflichtlektüre für den Kraus-Kenner, schon allein wegen seines Autors Felix Salten, ach, das führt zu weit). Sofort bestätigte ein ortskundiger Insider, jedes Kind habe in Wien schon mal den Spruch „Fut ist gut“ auf eine Klo- oder Plakatwand hingekritzelt gelesen.

Das brachte nun die halbe Mailingliste in Wallung und man überbot sich fortan in der Präsentation kurzweiliger Klo- und Obszönsprüche, wohl um ebenfalls den unbewachten und flüchtigen Moment der Genialität zu erhaschen. (Auch mir stand flugs ein einschlägiger Spruch meiner Berufssphäre vor Augen, in dem das gemeine Sexualinteresse des Azubi, eine lebensnahe Ausbilderdidaktik und die, ja, Magie des Reims selbdritt und wundersam zusammenklingen, und der geht so: Die Säge und den … gebraucht man immer ganz.)

Nun wären wir eigentlich am Ende unserer Klosse, aber der Mensch, hat er einmal ein Rätsel gelöst, handele es sich um den Beweis der Poincaré-Vermutung oder das fehlende dritte Wort eines Klospruchs, fragt weiter. So verblüffte mich der Wienkenner mit der Feststellung, jener „genialste Reim“ sei heutzutage oft in dem Satz „AUTO IST GUT“ versteckt nach Hinzufügen eines Strichs vom „F“ zum „A“ und angehängtem „O“. Eine Erklärung dafür blieb er schuldig, sie ist aber auch vermutlich ähnlich komplex wie die eines mathematischen Jahrhunderträtsels.

Sind das nun selbsternannte (oder gar offizielle) Sittenwächter, die nur den Aufwand des kompletten Übermalens scheuen, und das Anstößige zu Banalem entschärfen? Ist das der Sieg der konsumgeilen Auto-Erotik über den gemeinen Sexualwillen, der sich aber doch gerade beim Kritzeln auf dem Klo so unverwüstlich zeigt? Oder setzt sich hier einfach die Lust am Wortspiel und -bild durch in einer Art kreativer Entleerungseuphorie? Für Karl Kraus die Verstümmelung der magischen Verbindung von Sex und Reim (woraus moderne Buchkonzerne Sex and Crime gemacht haben) lässt sich der neue, so nichtssagende Satz auch milder bewerten, als Urform des anderen Humanums, des menschlichen Spieltriebs. (3.12.2010)

Nachholende Schlagfertigkeit
Schlagfertigkeit, also die Gabe der ansatzlos raschen, witzigen Erwiderung auf ein unkalkulierbares Ereignis, gehört wie überragender Reichtum oder Schönheit zu den menschlichen Attributen, die den anderen, nicht uns vorbehalten sind. Es sind aber nicht so viele, dass man sich seines Mangels schämen müsste. Gegenüber Schönheit und Reichtum hat die Schlagfertigkeit den Vorzug eines geringen Neidfaktors, der Spaß am schnellen Bonmot gehört sozusagen allen.

So freute es mich kürzlich, schon im zugigen OP-Kittel und in Erwartung der Abfahrt meines Rollbettes zu einer kleineren Beinoperation, einen Mitpatienten auf die Frage, welches Bein denn betroffen sei (was ich noch kurz zuvor mit der drögen Auskunft „das rechte“ beschieden hatte), antworten zu hören: „Gut, dass Sie fragen!“ Die entstandene kleine Heiterkeit milderte meine Nervosität vor dem kommenden chemisch reinen Schlaf, die Panik war im Keim erstickt.

Auf dem kleinen Dorffriedhof einer Gemeinde, die sich mangels veritablen Gewässers „am Taunus“ nennen muss, hieb ich unlängst mit dem Spaten auf eine armdicke Baumwurzel neben einem Erdgrab ein, um Platz für das Fundament zu machen. Eine etwa mittelalte Frau eilte mit gefüllter Gießkanne vorüber und rief „Machen Sie nicht so einen Lärm, sonst wacht er noch auf!“ Ich mag ja solcherart geerdeten Humor, erwiderte, da mir nichts Witziges einfiel, irgendetwas nebenhin, sodass eine kleine Unterhaltung zustandekam. Während ich mich anschließend wieder an der Wurzel zu schaffen machte, grübelte ich über eine spritzigere Antwort nach, kam aber über ein „Der wacht erst beim Jüngsten Gericht auf“ nicht hinaus, also selbst mit nachgeschobenem „Und den Schallpegel schaffe ich nicht“ kein wirkliches Top-Bonmot. 

Es steht wohl allgemein nicht gut um die nachholende Schlagfertigkeit, die anscheinend unheilbar kränkelt an des Gedankens Blässe wie an falschem Timing, gleich einem präzise eingeforderten Paukenschlag im Großen Orchester, der sein zögerndes Aussetzen ein paar Takte später nicht mehr gutzumachen vermag. Eine Rettungsmöglichkeit bietet nur das Schreiben, das auch zäh ergrübelten Pointen eine Chance lässt. (14.11.2010)

Stay Friends
Kürzlich traf ich C. wieder, die mir Neues von L. berichtete, der sich gerade erst von einer Phase tiefster Depression erholt hatte. L. war mein Mitschüler im Kantgymnasium gewesen, ein, wie man so sagt, Elitegymnasium und das verkommenste der ganzen Stadt. Über die Jahrhunderte seiner Existenz hat es nur Verheerendes in den Köpfen seiner Schüler angerichtet, dachte ich, während C. von L. berichtete, statt Bildung hat es Arroganz und Rücksichtslosigkeit hervorgebracht, statt Lebensmut und Gemeinsinn niederschmetternde Depressionen und Selbstmorde. Unzählige Schüler sind an dem kalten Drill dieser Seelenzerstörungsanstalt zerbrochen, nur die robustesten und damit naturgemäß dümmsten haben ihn überlebt. Juristen haben ihre Kinder aufs Kantgymnasium geschickt, um aus ihnen Anwälte oder Juraprofessoren zu machen, und die dümmsten von ihnen, also die, die das Kantgymnasium überlebt haben, sind auch Anwälte oder Juraprofessoren geworden. Die Kinder aus Zahnarztfamilien, hatten sie mit viel Glück und noch mehr Dummheit den geistlosen Notendrill überlebt, sind wieder Zahnärzte geworden, aus Managerkindern wurden Manager, aus Urologenkindern Urologen, das Kantgymnasium hat die Phantasie seiner Schüler bei der Berufswahl nicht gerade beflügelt, dachte ich auf meinem Sofasessel, während C. Kaffee nachschenkte. Wer als junger Schüler nur ein Quäntchen Intelligenz und Phantasie mitbrachte ins fürchterliche Kantgymnasium, dem wurden es rücksichtslos und, wie man sagen muss, restlos ausgetrieben. Die einzige Zuflucht für diese an sich Todgeweihten ist tatsächlich die Musik gewesen, dachte ich, während C., eine hervorragende und vom Kantgymnasium verschont gebliebene Pianistin, in ihrer Leidensgeschichte von L. fortfuhr. Nicht dass die Musiklehrer einen Deut besser waren als ihre samt und sonders pädophoben Kollegen, im Gegenteil waren sie noch weitaus schlechter in diesem drill- und bedeutungslosen Fach. Hatte ein Schüler aber Glück und beispielsweise ein muskalisches Elternhaus, naturgemäß niemals, wie gesagt werden muss, ein juristisches, also das allerstumpfsinnigste, eher schon ein Arzt-Elternhaus, wo regelmäßig die klaffendste Sinnleere zur Musik hindrängte, ja hinzwang, oder kam ihm sonstwie der Zufall zuhilfe, so gelang es ihm nicht selten, der vorbestimmten, gleichwohl tödlichen Juristen- und Ärztelaufbahn zu entkommen, wurde Jazztrompeter, Quartettviolinist oder Zirkusorchestermusiker und war gerettet. (28.08.2010)

Der Steinmetz in der Literatur (2) – Günter Grass
Günter Grass war Steinmetz. Diese Tatsache wird mir immer mal wieder von der Seite zugeraunt von Leuten, die mir Mut zusprechen wollen in meiner Untergrundexistenz als lese- und schreibaffiner Handwerker. Es gibt, so die durchaus wohlwollende Botschaft, eine schmale Passage zwischen den beiden Weltmeeren praktischen Tuns und verfeinerter Kultur, zwischen Baustelle, Maschinenstaub und Flaschenbier einerseits und dem entfesselten Reflexionsraum avancierter Literatur – und die heißt Günter Grass.

Nun ist das, wäre es wirklich so gemeint, natürlich blühender Unsinn, wenn überhaupt hat (im deutschsprachigen Raum) nur die DDR Verhältnisse geschaffen, in denen Schreiben und Maloche unter Druck zu Neuartigem kristallisierte. Günter Grass jedenfalls hat Zollstock und Fäustel ziemlich schnell wieder weggelegt, als es dann ernsthaft ans Schreiben und Dichten ging. Immerhin gab er noch 1960, die „Blechtrommel“ war schon erschienen, bei einer Umfrage zur sozialen Lage der Schriftsteller zum Besten, er sei „als gelernter Steinmetz in der Lage, notfalls, sollte man mir eines Tages das Kochen, Schreiben und Zeichnen verbieten, auf den Bau zu gehen und Muschelkalkfassaden zu versetzen“ (aus Jörg Lau: Hans Magnus Enzensberger – Ein öffentliches Leben, danke Tscho!).

Muschelkalkfassaden? Das sind doch diese betongrauen Riesenwände an Protz- und Prunkbauten wie Tribünen, Stadien, Banken oder Autobahnbrücken, deren Material schon die Nazis als urdeutschen Naturstein so liebten? Aber ehe wir Grass wieder eine uneingestandene Verbindung zu trüber Vergangenheit unterstellen (und damit den Maßfälschern moralischer Fallhöhen in die Hände spielen), sei doch klargestellt, dass sich Muschelkalk auch nach dem Krieg noch weiter Verbreitung und großer Beliebtheit erfreute.Nein, die Steinsorte verspricht hier gar keinen Erkenntnisgewinn, eher schon die demonstrative Erdung eines „jungen Wilden“ in seinem erlernten Handwerk. Wie schon Jörg Lau in seinem Buch feststellt, ist die behauptete Bedrohung künstlerischer Produktion in der Adenauerzeit nicht ganz frei von Pose, war doch Grass als treuer Parteigänger der SPD kommunistischer Umtriebe weitgehend unverdächtig. Nebenbei wirkt es auf mich wie die Andienung an die klassisch sozialdemokratische Facharbeiterschaft, in der sich der künftige Weltschriftsteller zu verankern suchte.

Heute, da sich die Milieus weitgehend undurchlässig ihre Stars erbrüten und die Kontrolle über die Kanäle zum Publikum alles ist, erscheint ein solches Bekenntnis anachronistisch. Eine Versuchung geht von ihm aus, sich nostalgischer Wehmut und wohlig-stolzen Gefühlen zu überlassen. Wir Steinmetze müssen jetzt tapfer sein: Günter Grass war der letzte von uns unter den Nobelpreisträgern, danach kommt nichts mehr. Wir sind wieder allein unter unseresgleichen auf der Baustelle, mit Flaschenbier und Maschinenstaub. (11.03.2010)

Der Steinmetz in der Literatur (1) – Raabe Baikal
Das Alpha und mit nur geringer Übertreibung auch das Omega der Steinmetz-Literatur ist für mich der einzige Roman des jungen Schriftstellers Thomas Strittmatter mit dem seltsamen Titel „Raabe Baikal“. Aus dem Schwarzwald stammend ist er nicht verwandt mit seinem Namensvetter und Ost-Kollegen Erwin, dessen Bekanntheitsgrad er nicht mehr erreichen wird, da er 1995 im Alter von 33 Jahren an einem angeborenen Herzfehler starb. Immerhin brachten ihm frühe Theaterstücke, Arbeiten für den Film und nicht zuletzt sein 1990 erschienener Roman zahlreiche Preise und posthum die Namensgeberschaft für sein früheres Gymnasium in St. Georgen ein.

„Raabe Baikal“ schildert die Lehr- und Wanderjahre des jungen Titelhelden in vielen kurzen Kapiteln mit knappen Szenen, spröden Geschichten rund um eine Handvoll Mitschüler, Internatspersonal und weiteren Bewohnern einer ländlichen Gegend im Schwarzwald. Hier verläuft das Leben vorbestimmt, durch Familienstellung und Beruf festgezurrt, und nur das Sterben, die Aussicht des nahen Todes, macht genügend Kräfte frei, sich radikal zu erkennen zu geben. So grundiert der Tod in allen Abschattungen von Groteske zur Banalität die Geschichten um den düsteren Schüler Raabe, der folgerichtig bei einem Grabsteinmetz in die Lehre geht.

Das Aufnahmegespräch und die erste Unterweisung mit dem hölzernen Schlagwerkzeug, dem Knüpfel, ist so lebensnah und witzig beschrieben, dass den Innungsverbänden nahezulegen ist, die Szene tausendfach kopiert unter die Abschlussjahrgänge zu bringen. Der raue Meister, der allein in seiner Werkstatt und von Wodka, Stallhasen und Selbstgedrehten lebt, manövriert Raabe, der natürlich die Biografie von Michelangelo gelesen hat, geschickt in ein spontanes Bekenntnis, Künstler werden zu wollen. Sofort legt er los:

Also halt die Klappe und paß auf. Ich bin kein Künstler. Du kannst von mir aus einer werden. Ich bin ein Steinmetz, ein Handwerker, ein Arbeiter. Und weißt du, wovon ich lebe? Im Durchschnitt werden hier, auf zwanzig Kilometer, fünf pro Jahr überfahren. Oft Alte, aber dieses Jahr schon drei Kinder, eine Hirnhautentzündung. Tausendzweihundert Mark pro Stück. Bei den Erwachsenen zweitausend. Manchmal bis zu viertausend. Ich arbeite billig. Viel zu billig. Hergottzack.

Dann folgt die Unterweisung mit dem Knüpfel, südbadisch Klöppel, und Raabe besteht die Prüfung (oder eher Initiationsritual) mit einem wohlgezielten Schlag auf einen Hasenkopf. Nun beginnt für ihn eine harte, aber erfolgreiche Lehrzeit, in der er nicht nur Staub, Lärm und Wunden, also die zwangsläufigen Steinmetz-Ingredienzen auszuhalten lernt. Sondern auch in ausbildungspädagogisch hervorragender Weise die wichtigsten traditionellen Techniken, angefangen mit dem Ausnehmen und Zubereiten von Hasen, Tabaktrocknung, Drogenkunde, Steinbearbeitung bis hin zu Liebe und Sex im nahegelegenen Waldbordell.

Nun empfehle ich keineswegs, die erfolgreiche Tierschlachtung in den Prüfungskanon zum Steinmetz aufzunehmen. Aber die Vorstellung vom Steinmetz als letztem Reservat des Elementaren, der Zivilisationsverweigerung, als aussterbende Existenzform, die mit bloßen Händen, nur mit Hammer, Meißel und Stein ihr karges Brot verdient, entfaltet ihren stillen Zauber für mich immer dann, wenn ich einem Kollegen begegne, der sich vom Gebietsvertreter Aldi-Süd nicht sonderlich unterscheidet.

Ich fasse zusammen:

Der Identifikationsfaktor fällt zwiespältig aus. Einerseits ist die Figur des Steinmetz mit Sympathie gezeichnet. Seine Souveränität schöpft aus dem intimen Umgang mit dem belebten und unbelebten Elementaren. So etwas schmeichelt. Andererseits möchte niemand an Steinstaub oder Lungenkrebs oder einseitiger Ernährung verrecken, was die schon zwangsläufige Folge solcher Lebensweise ist und im Buch handfest beschrieben wird. Offenbar lässt dieser Beruf die Wahl zwischen Extremen, was auf unserem weiteren Erkundungsweg durch die Steinmetz-Literatur noch näher zu untersuchen sein wird.

Im Realitäts-Check schneidet das Buch sehr gut ab, fast alles stimmt. Eine Kleinigkeit ist zu monieren: Wenn der Apotheker zum Aufwecken des Meisters dem Blatt einer Steinsäge mit seinem Regenschirm einen Schlag versetzt, ertönt wohl eher ein leichtes Scheppern als das literarisch großartigere „bebende Geräusch“ wie vom „Gong eines tibetanischen Klosters“ (S. 133). Wirklich laut wird es, wenn man mit dem Vorschlaghammer das mannshohe Blatt einer Blocksäge richtet, wie ich es mal in einem Schweizer Granitwerk gesehen habe (übrigens nicht weit vom Ort der Romanhandlung entfernt). Etwas Unbehagen löst bei mir auch die Fertigstellung des Marmorgrabsteins für den toten Meister durch Raabe aus. Dieser arbeitet das riesige Werkstück zu einem handlichen viereckigen Würfel herunter „bis er mit der Zeichnung (= Maserung, J. R.) zufrieden war“ (S. 292). Was für eine Verschwendung! Und wenn dann, auf den letzten Seiten des Buchs, die Versetzaktion beim Überqueren der Autobahn abgebrochen und der Brocken auf die linke (!) Fahrspur abgekippt wird, so gruselts mir doch ein wenig vor solch kantiger Symbolik, und sachte wächst (das Buch ist schon lange zugeklappt) echtes Mitgefühl mit dem Aldi-Süd-Gebietsleiter, der just hier im silbergrauen BMW einem wichtigen Termin entgegeneilt… (03.02.2010)

Thomas Strittmatter: Raabe Baikal. Roman.

Diogenes Taschenbuch 2000. 296 Seiten, 9,80 Euro.

Reisenotizen (1) – Ungarn
Ungarn, kleines weites Land der Felder und Wiesen, von Büschen, Wäldchen und Unkraut, von staubigen Dörfern mit Kürbisständen, vor denen Kopftuchmütterchen sitzen ohne Zeit und Ziel, und charmant bizarrem Kabelgewirr von Strom und Telefon, wie privat, nach Feierabend, mit sparsamem Materialeinsatz aber Improvisationstalent verlegt, von Städten, die ihre sanierten Denkmäler und Läden den Touristen darbieten neben vergilbenden, zerbröckelnden Fassaden und Zäunen, wo ein rätselhaftes Füllhorn zufällige Wohlstandsorte erblühen lässt aus Marmor und Bronze, strahlenden Farben und teurer Importmarke, und ein ebenso rätselhafter Dämon der Amnesie daneben Zonen der Verödung und des Verfalls markiert, Land der schneidigen Uniformen von der k.u.k. Buntheit bei Stationswärterinnen auf Provinzbahnhöfen bis zum Sheriffschwarz der patroullierenden rendörség mitsamt seit Kojak-Tagen ungehörtem Sirenengeheul, Land des Nationalstolzes mit der sicherlich höchsten Dichte an Bronzestatuen, -köpfen und -plaketten von manchmal bekannten, meist völlig unbekannten, jedenfalls toten Ungarn pro Quadratmeter und Land der Krise, wo die studierten Kinder zurück müssen ins elterliche Häuschen im Dorf ohne gutbezahlten Job in Bank oder Versicherung, und elado – zu verkaufen – zum einzigen Wort Ungarisch avanciert, das Touristen bei der Abfahrt beherrschen, gelesen unzählige Mal an Ferienhäusern, Grundstücken, Geschäften.

Und Land ohne cigány, die vor vielen Jahren noch für den Ruf als lustigste Baracke des Ostblocks zuständig waren, überall gegenwärtig, wo die Stimmung zu heben, das Kleingeld zu lockern war, und jetzt weg sind, verschwunden von der Bildfläche, verdrängt wohl von der wachsenden Konkurrenz im Billiglohnsektor, die sich aber auch verstecken müssen vor den Geschichten, die Ungarn wie Marica erzählen, eine kultivierte sympathische Rentnerin, Gespenstergeschichten, erzählt in klingendem Deutsch, das sie von Touristen lernte in den goldenen Jahren, als ihr Mann noch die Westautos gegen Devisen reparierte, mit einem so abgefeimt winzigen Kern an Wahrheit, dass ein paar Klicks Recherche im Internet genügen, den Spuk zu beenden.

Denn nicht die Roma waren es, die den harmlos feiernden Handballstar auf Herz und Nieren prüften nach Zigeunerart, also die Organe nach präzisen Messerschnitten als Ganze mitgehen ließen – um sie habgierig an den internationalen Organhandel zu verhökern? – oder als Reliquie an einen besonders fanatischen Anhänger des LC Vezprem? – oder ihren indischen Vorfahren nach streng geheimen Ritual zu opfern? – nein, ein gewöhnlicher Chirurg entfernte während der Notoperation die Niere, so weit korrekt, Marika, allerdings eines Kollegen dieses Handballstars, und das durchaus präzise, nämlich mit Skalpell, nachdem dieser Kollege dem Handballstar im Tumult einer wilden Schlägerei zu Hilfe eilte und in den Rücken gestochen wurde, was bei weitem nicht nett war, vielmehr durchaus brutal, aber doch im Rahmen eines spukfreien Verbrechens, in dessen weiterem Verlauf der berühmte Handballhüne im Handgemenge zu Tode kam, erstochen von kriminellen Roma, um sogleich verklärt zu werden zum Heldenmythos, gemeuchelt nur von einer Übermacht von Vampiren, die wer weiß welche Propaganda, welche Zeitung ins Leben rief, gegen die jedenfalls unsere vielgeprügelte Bild-Zeitung das Verlautbarungsorgan des Bundesverfassungsgerichts ist. (20.12.2009)

Friedhofsgeschichten (1) – Das Eichhörnchen im Tiefgrab
Dem Friedhof als grausigem Niemandsort, wo der Wind an den Gebeinen die Harfe streicht, begegnet man nur im Groschenheft. Dennoch gehen viele Leute nicht gerne dorthin. Das liegt aber nicht an den gepflegten Grünanlagen, die webfein gerastert und geregelt sind wie Parzellen von organisierten Kleingärtnern. Eher liegt es am Verhältnis zum Tod, der wohl für viele ein innerer Weggefährte, aber kein fassbarer Ort sein kann.

Dabei gewinnen gerade die größeren Friedhöfe mit viel Baumbestand in manchen Momenten ihre Magie zurück, die doch eigentlich gebannt war. Wer kann sich ihr entziehen, wenn im Herbst oder Winter eine rasche Dämmerung den Verspäteten zur Eile antreibt (denn die Unwirtlichkeit der Dunkelheit nicht zu spüren ist ein Privileg der Toten) – und während Licht und Farben sacht verlöschen, erscheinen, leicht tänzelnd oder bewegungslos wie Sterne, die ewigen Lichter der Toten und leuchten dem Gast freundlich hinaus? Oder ist es etwa nicht Magie, wenn an einem hellen Sommertag der Blick in eine kleine grüne Allee aus Bäumen, Büschen, Wiesen, Brunnen, Gräbern fünf kreuzende Eichhörnchen auf einmal erfasst wie flinke Handelsreisende, die das Tagesgeschäft des Lebens besorgen für ihre bequeme, längst zur Ruhe gesetzte Herrschaft?

Und natürlich ist der Friedhof ein idealer Ort zum Arbeiten, im Grünen und ungestört. In meiner Zeit als Geselle im Frankfurter Westen, als ich mit meinem jungen Chef ein Arbeitsgespann abgab, das fast täglich hinausfuhr zu einer Handvoll Friedhöfe des Einzugsgebiets, trafen wir einmal einen Trupp Arbeiter, die sich über ein offenes und verschaltes Tiefgrab beugten. Ihr Anführer war ein kräftiger, schon älterer Baggerführer, gefürchtet bei Kollegen und Steinmetzen gleichermaßen für die zackigen, rücksichtlosen Drehungen und Absenkungen der Schaufel (- derselbe übrigens, von dem man erzählte, er habe Monate später sein durch eine Kippe in Brand geratenes Arbeitsgerät seelenruhig verlassen, sei dann zurückgekehrt, um die Tasche mit dem Frühstück zu retten,  und habe sich schließlich gemächlich auf den Weg gemacht, den Vorfall zu melden – ein sicherer Nachweis solider Nervenstärke, den seine Vorgesetzten wie gewünscht mit der vorzeitigen Verrentung honorierten).

Dieser Grobian, nennen wir ihn Gruber, war schon eine ganze Weile mit seinen Kollegen damit beschäftigt gewesen, ein Eichhörnchen zu retten, das in das Grab gefallen war und an den glatten Wänden nicht mehr herausfand. Einer stieg zur Grabsohle hinab und scheuchte das wie angestochen herumspringende Tierchen nach oben. Gruber, der nach einem kräftigen Biss die Handschuhe übergestreift hatte, versuchte, in Abschätzung der Laufwege, den Flüchtigen zu greifen. Was dann, unter Gelächter und Zurufen, schließlich auch gelang.

Mag sein, dass dem Eichhörnchen der Sympathiebonus zugute kam, den eine stets putzmuntere Agilität gewährt (im Gegensatz zu, sagen wir, einer ziemlich chancenlosen Erdkröte). Mag auch sein, dass es pragmatische Gründe für die aufwendige Hilfsaktion gab (eine Beerdigung mit totem oder wild herumflitzendem Eichhörnchen macht sich nicht gut). Es soll eben alles seinen geregelten Gang gehen auf dem Friedhof, wo die versäumte Lebensrettung einer Störung der Totenruhe gleichkäme. (26.01.2009)

Isso
Im Ozean der alltäglichen Geräusche und Töne, die in unser Ohr dringen, gelingt es ein paar von ihnen, nicht gleich wieder vom nächsten Laut hinweggespült zu werden. Am Grund des Stroms festgeklammert, genügt ein Zufall, ein neuronaler Blitz, und sie sind wieder da – hell, banal, berauschend, quälend.

Solcherart suchte mich kürzlich das Wörtchen „Isso“ heim. Ich erkannte es schnell als Satzbrocken, nämlich ein spezifisch hessisch eingefärbtes, jedenfalls souverän verkürztes „Ist so“ bzw. „Es ist so“. Und schnell stand mir auch der Urheber vor Augen, eine Art fliegender Hausarzt für Elektrogeräte, dessen stattliche, ja feiste Erscheinung bestens mit allen äußerlichen Insignien der Mobilität wie schwarzer Maschinenkoffer, Headset und Bluetooth-Handy zusammenklang.

Die performance dieses Zehnkämpfers der Kleingewerbe-Olympiade beeindruckte: Er wippte die Spülmaschine wie eine Grabstele auf der Kante der Standfuge zur Seite, löste und bog Verblendungen, terminierte schon mal über Headset den nächsten Auftritt bei einer verzweifelten Hausfrau, erkundigte sich im Lager nach der Lieferbarkeit eines Ersatzteils, hustete donnernd und pfeifend ab – und alles das nicht selten zur gleichen Zeit.

Und immer wieder fiel in den Gesprächen des gewieften multitaskers jener Universallaut der Tüchtigen und ganz Diesseitigen und schwemmte Zwielicht und Zweifel hinweg. Die Reparatur war teuer – nun ja: Pech gehabt, und ich wars zufrieden. Isso. (24.05.2008)