Frühling
Frühling auf dem Friedhof: und das Leben, bisher verharrend in solidarischem Schweigen mit den Toten, bricht sich wieder Bahn, Frühlingsstürme knicken das morsche Holz und schaffen Raum für Neues, die Vögel zwitschern, pfeifen, singen in ihrer jahrmillionenalten Unbekümmertheit um musikalische Trends.
Die Blumen blühen um die Wette für ihre fliegenden und flanierenden Fans und zeigen krasseste Farben. Darunter die Toten, sie ruhen aus von all dem Lebenskrach und suchen sich, man mag es träumen, nur zarte Töne, um zu erscheinen, in einem Rauschen oder Zirpen, einem Wispern oder Singen.
Im „Mann ohne Eigenschaften“, dem unvollendeten Hauptwerk von Robert Musil, findet sich eine schöne Passage, in der Agathe, die Schwester des Titelhelden Ulrich, an einem Grab am Rande Wiens ihrer tiefen Einsamkeit in einer gleichgültigen Welt bewusst wird. Während Musils Männer dieses moderne Grundgefühl häufig mit intellektueller Brillanz oder leerdrehender Betriebsamkeit auf Abstand halten, trifft es seine Frauen eher schutzlos und mit stiller Wucht. Die Fotos sind die Ausbeute eines Streifzugs auf dem Frankfurter Hauptfriedhof von Joachim Schmidt.
„So mochte Agathe wohl noch gegen eine Stunde gestiegen und gewandert sein, als sie sich plötzlich vor jener kleinen Buschwildnis fand, die sie im Gedächtnis getragen hatte. Sie umhegte ein vernachlässigtes Grab am Rande des Waldes, wo sich vor fast hundert Jahren ein Dichter getötet hatte und nach seinem letzten Wunsch auch zur Ruhe gebettet worden war.
Ulrich hatte gesagt, daß es kein guter, wenn auch ein gerühmter Dichter gewesen sei, und die immerhin etwas kurzsichtige Poesie, die sich in dem Verlangen ausdrückt, auf einem Ansichtspunkt begraben zu sein, hatte an ihm einen scharfen Beurteiler gefunden.
Aber Agathe liebte die Inschrift auf der großen Steinplatte, seit sie gemeinsam ihre von Regen verwaschenen schönen Biedermeier-Buchstaben auf einem Spaziergang entziffert hatten, und sie beugte sich über die schwarzen, aus großen kantigen Gliedern bestehenden Ketten, die das Viereck des Todes gegen das Leben umgrenzten.
„Ich war euch nichts“ hatte der lebensunzufriedene Dichter auf sein Grab setzen lassen, und Agathe dachte, das könne man auch von ihr sagen. Dieser Gedanke, am Rande einer Waldkanzel, über den grünenden Weinbergen und der fremden, unermeßlichen Stadt, die in der Vormittagssonne langsam ihre Rauchschweife bewegte, rührte sie von neuem.
Sie kniete unversehens nieder und lehnte die Stirn gegen einen der als Kettenträger dienenden Steinpfeiler; die ungewohnte Stellung und die kühle Berührung des Steins täuschten ihr den etwas steifen, willenlosen Frieden des Todes vor, der sie erwartete.
Sie versuchte sich zu sammeln. Es gelang ihr aber nicht gleich: Vogellaute drangen an ihr Ohr, es gab so viele verschiedene Vogellaute, daß es sie überraschte; Äste bewegten sich, und da sie den Wind nicht wahrnahm, kam ihr vor, daß die Bäume selbst ihre Äste bewegten;
in einer plötzlichen Stille war ein leises Trippeln zu hören; der Stein, den sie ruhend berührte, war so glatt, daß sie das Gefühl hatte, zwischen ihm und ihrer Stirn liege ein Eisstück, das sie nicht ganz heranlasse.
Erst nach einer Weile wußte sie, daß sich in dem, was sie ablenkte, gerade das ausdrückte, was sie sich vergegenwärtigen wollte, jenes Grundgefühl ihrer Überflüssigkeit, das, wenn man es auf einfachste bezeichnete, nur mit den Worten auszusprechen war, das Leben wäre auch ohne sie so vollständig, daß sie darin nichts zu suchen und zu bestellen hätte.
Dieses grausame Gefühl war im Grunde weder verzweifelt noch gekränkt, sondern ein Zuhören und Zusehen, wie es Agathe immer gekannt hatte, und bloß ohne jeden Antrieb, ja ohne die Möglichkeit, sich selbst einzusetzen. Beinahe lag eine Geborgenheit in dieser Ausgeschlossenheit, so wie es ein Staunen gibt, das alle Fragen vergißt. Sie konnte ebensogut weggehen. Wohin? Irgendein Wohin mußte es wohl geben.“
Sommer
Sommer auf dem Friedhof, auch dies eine Zeit der Toten: Es ist zu heiß, sich zu bewegen, und Zeit und Raum stehen still wie die viel zu helle Sonne am Himmel. Selbst die Natur scheint kurz zu schlafen, fast wie im Winter (bis auf die Insekten natürlich, die, endlich auf Betriebstemperatur, wie irre schwirren und krabbeln und sich vermehren).
Doch ist hier schattiges Asyl an jeder Ecke, und selbst auf weiten Wiesen und Wegen nie gänzlich lebensfeindliche Wüste. Wofür schon die unzähligen gemauerten Brünnlein sorgen und den Ort – was könnten sich die Toten mehr wünschen – freundlich und einladend machen.
Zu den wiederum von Joachim Schmidt geschossenen Sommerfotos vom Frankfurter Hauptfriedhof passt ein kleiner Ausschnitt aus einem weiteren Schwergewicht der Weltliteratur, dem „Ulysses“ von James Joyce. Irische Spott- und Sprachlust löst österreichische Seelenergründung ab, und macht den „Hades“, wie das Kapitel unter Kennern heißt, fast schon zur Lachnummer. Wortwitz, Musik und Alkohol mischen sich im irischen Gegenzauber zum Medusenhaupt des Todes, das ja ansonsten keinen Spaß versteht.
Die Hauptfigur des Werks, Leopold Bloom, ist Teil einer kleinen Trauergesellschaft, die einem verstorbenen Freund das letzte Geleit gibt. Ort der Handlung ist Dublin, die Zeit der 16. Juni 1904, Bloomsday. In der Kutsche wird der Sarg von Paddy Dignam von seinem Wohnort quer durch Dublin bis zum Friedhof Glasnevin im Nordwesten gefahren, wo die Beerdigung stattfindet.
Ein weiter Weg, am Rande bemerkt, für den man gut zu Fuß sein muss, um heutzutage nicht doch in einen komfortablen Bus einzusteigen. Während der Trauerzug dem Sarg zum Grab folgt, lässt der Friedhofsaufseher ein lustiges „Döneken“ vom Stapel. Felix Hibernia!
– Did you hear that one, he asked them, about Mulcahy from the Coombe?
– I did not, Martin Cunningham said.
They bent their silk hats and Hynes inclined his ear. The caretaker hung his thums in the loops of his gold watchchain and spoke in his discreet tone to their vacant smiles.
– They tell the story, he said, that two drunks came out here one foggy evening to look for the grave of a friend of theirs. They asked for Mulcahy from the Coombe and were told where he was buried. After traipsing about in the fog they found the grave shure enough. One of the drunks spelt out the name: Terence Mulcahy. The other drunk was blinking up at a statue of Our Saviour the widow had got put up.
The caretaker blinked up to one of the sepulchres they passed. He resumed:
– And after blinking up at the sacred figure, Not a bloody bit like the man, says he. That´s not Mulcahy, says he, whoever done it.
– Habt ihr den schon gehört, fragte er sie, den von Mulcahy aus der Coombe?
– Ich nicht, sagte Martin Cunningham.
Sie senkten im Einvernehmen die Zylinder, und Hynes neigte sein Ohr. Der Friedhofsaufseher hängte die Daumen in die Schlaufen seiner goldenen Uhrkette und sprach im diskreten Ton zu ihrem leeren Lächeln:
– Also die Geschichte ist die, sagte er, dass an einem nebligen frühen Abend mal zwei Besoffene hier rauskamen, um nach dem Grab von einem ihrer Freunde zu sehen. Sie fragten nach Mulcahy aus der Coombe, und bekamen Auskunft, wo er begraben lag. Nachdem sie eine Weile im Nebel herumgetappt waren, fanden sie auch richtig das Grab. Der eine Besoffene buchstabierte den Namen: Terence Mulcahy. Der andere blinzelte derweil zum Standbild unseres Erlösers empor, das die Witwe da hatte aufstellen lassen.
Der Friedhofsaufseher blinzelte zu einem der Grabmäler empor, an denen sie vorüberkamen. Er fuhr fort:
– Ja, und wie er nun ausgiebig zu der heiligen Gestalt emporgeblinzelt hat, sagt er, Also nicht das kleinste bisschen Ähnlichkeit. Nee, das ist Mulcahy nicht, sagt er, egal wers gemacht hat.
Herbst
Herbst auf dem Friedhof, da herrscht geschäftiges Treiben der Lebenden wie vor einer Reise oder kollektivem Schlafengehen. Die Bäume machen sich glatt und kahl für das heraufziehende Dunkel und regnen bunte Blättermassen auf Wege und Gräber.
Es ist die Zeit der Fülle, an Farben und Früchten, an Wind und Regen, und die Zeit der Vorsorge in Erwartung des kalten Schlafs. An seinem Ende ruhen die Toten, Frühlingswaisen, nah und fern unserem noch herbstlich geschäftigen Herzschlag.
Nachfolgender Text, eine Entdeckung aus der Reihe „Frankfurt liest ein Buch“, spielt Mitte der siebziger Jahre und, dies Geständnis vorweg, nicht im Herbst, sondern im Frühjahr, um Ostern herum. Am Ende von Eva Demskis Roman „Scheintod“ wird aber ein so bunter Hund auf dem Hauptfriedhof beigesetzt, dass eine leichte Verwirrung der normalen Reihenfolge der Jahreszeiten ganz gut dazu passt.
Ein junger Anwalt ist an einem Asthmaanfall gestorben. Er war verheiratet mit der Frau, aus deren Perspektive der Roman aufgezeichnet ist, aber Liebhaber junger Männer, er war ein Revolutionär mit Kontakten zur RAF, aber undogmatischer Anarchist und erotischer Bonvivant.
Unprätentiös und genau beschreibt die Autorin die Zersplitterung der Trauergesellschaft in vier Fraktionen. Da steht die katholische Verwandtschaft, die den Mann noch als braven Bub in Erinnerung hat, neben der motorradbewaffneten Rockergruppe, die von ihm mit Faible für gesellschaftliche Randgruppen juristisch betreut wurde. Des Weiteren sind da seine jungflippigen indienbewegten Fans mitsamt seinem letzten Geliebten, die die kapitalistische Repression mit Joints und freier Liebe bekämpfen, sowie schließlich seine eigentlichen Freunde und Kollegen, ein linkes Panoptikum, das bei allen theologischen Streitfragen eine solidarische Gemeinschaft bildet.
Am offenen Grab kommt es noch zu einer kleinen Konfrontation der Witwe mit dem Jugendfreund Deutner. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass der eigentliche Tod schon die Lebenden ereilt, die Menschen in Schubladen und Ringbüchern sauber geordnet abheften. Die Fotos vom herbstlichen Frankfurter Hauptfriedhof stammen natürlich wiederum von Joachim Schmidt.
Eva Demski, Scheintod. Roman. © Insel Verlag Berlin 2014
Da war zunächst eine mattschwarze Gruppe, in deren Mitte sie ihre Schwiegereltern stehen sah. Das waren die Verwandten, ihr fremder als alle anderen. Der Mann hatte ihr seine Verwandtschaft nie vorgestellt. …
In ordentlicher Reihe standen ein Dutzend schwerer Motorräder am Friedhofseingang, neben jeder Maschine einer von damals. Die Rocker waren gekommen, um Lebewohl zu sagen. Blutwurst und Mike und die anderen waren leicht wiederzuerkennen, obwohl sie in den Jahren, die sie sie nicht gesehen hatte, sehr dick geworden waren. …
Die dritte Gruppe war bunt. In ihrer Mitte stand der Junge, als einziger in Schwarz. Um ihn herum bewegten sich seine Freundinnen und Freunde wie Blumen. Indische Kleider in Rot und Blau und Weiß. Das ist auch Trauer, dachte sie. …
In der vierten Gruppe standen um Paul den Großen versammelt die Freunde und Kollegen. Das war eine dunkle, gedeckte Gruppe, man hatte Manieren, wollte es aber nicht übertreiben. Dunkelblau und braun, grau und gestreift erwiesen sie einem der ihren die letzte Ehre.
Sie tragen vier verschiedene Tote zu Grabe, flüsterte sie in das beharrliche Schweigen, das ihr diesen Tag so schwer machte. Welcher bist du?
Das ist ein unwürdiges Theater, sagte Deutner. Es beleidigt einen gläubigen Menschen. Wie hast du das zulassen können, das …
Das Pack? fragte die Frau wütend. Hast du das sagen wollen? Deutner schwieg.
Es sind seine Freunde! Es waren seine Freunde mehr als du, bis zum Schluss. Es sind Leute dabei, denen hat er geholfen. Und andere, die haben ihm geholfen! Woher nimmst du den Hochmut?
Schau seine wirklichen Verwandten an! flüsterte Deutner mit immer größerem Zorn, wie sollen seine Eltern das überleben? Den letzten Eindruck? Und seine Tanten. Die Leute, die ihn wirklich geliebt haben?
Du kleiner Pharisäer, sagte die Frau. Ihn? Ihn haben sie überhaupt nicht gekannt. Er hatte sich unsichtbar gemacht für sie. Für euch soll man wahrscheinlich noch ins Grab hinein lügen!
Winter
Schnee liegt auf dem Friedhof, die bunten Triggerfarben weichen der Kälte und der Nässe und sind vergessen in friedlichem Weiß und Grau. Was die Toten sind, wird jetzt, im Winter, überdeutlich, aber wer waren sie? Die Mutter, die im Winter starb, war doch eben noch da; sie war alt, aber doch altlebendig, sie war gebrechlich, aber gebrechlichlebendig, sie starb schon tausend Tode, war aber doch lebendig. Sie hatte also doch recht behalten mit ihrer leisen Endzeitpanik, mit ihrer rücksichtslosen Betriebsamkeit unter dem Druck des verrinnenden Lebens. Sie war ja doch nicht unsterblich! Wir träumten, und sie hat gelebt! Winter auf dem Friedhof: Die Zeit selbst scheint zu schlafen, aber das täuscht. Die Stille ist ein Fanal.
Unser kleiner literarischer Reigen endet, abgemischt abermals mit den Foto-Impressionen von Joachim Schmidt, mit einer der berühmtesten Friedhofs-Winter-Szenen, dem Schluss der finalen Erzählung „Die Toten“ aus dem Frühwerk „Dubliner“ von James Joyce. „Schon wieder Joyce“, höre ich die geneigte Leserin aufstöhnen, das ist doch Lesestoff für Professoren und andere verschrobene Nerds, die auch Zeit dafür haben, Sanskrit oder ägyptische Hieroglyphen zu entziffern. Aber in diesem kurzen Abschieds- und Aufbruchsgesang, im kleinen Tod des Einschlafens und im Gedenken an den großen Tod der Verstorbenen, der auch die Lebenden zerreißt, erklingt das, was auch in den Adagios einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie in Wundertöne gesetzt ist, die ganz unmetaphysische Gewissheit, dass Sterben und Tod eben nicht das letzte Wort haben.
Der Schriftsteller Gabriel Conroy besucht mit seiner Frau Gretta vor einer längeren Auslandsreise das weihnachtliche Festessen seiner beiden alten Tanten. Ort des Geschehens ist natürlich Dublin, vor dem ersten Weltkrieg. Zu den Gästen gehört auch ein Tenor, der am Schluss noch ein Lied singt, das Gretta stark bewegt. Sie erzählt ihrem Mann im Hotel, dass ihr Jugendfreund Michael Furey dieses Lied für sie gesungen hat, bevor er später mit siebzehn an Tuberkulose starb. Er sei ihretwegen gestorben, nachdem er, von Krankheit gezeichnet, noch einmal in winterkalter Nacht zu ihrem Gartentor gekommen sei. Sie schläft ein und Gabriel, der sich der Liebe zu ihr und seiner Eifersucht bewusst wird, sinniert im Einschlafen desillusioniert über Abschied, Tod und Neubeginn.
A few light taps upon the pane made him turn to the window. It had begun to snow again. He watched sleepily the flakes, silver and dark, falling obliquely against the lamplight. The time had come for him to set out on his journey westward. Yes, the newspapers were right: snow was general all over Ireland. It was falling on every part of the dark central plain, on the treeless hills, falling softly upon the Bog of Allen and, farther westward, softly falling into the dark mutinous Shannon waves.
It was falling, too, upon every part of the lonely churchyard on the hill where Michael Furey lay buried. It lay thickly drifted on the crooked crosses and headstones, on the spears of the little gate, on the barren thorns. His soul swooned slowly as he heard the snow falling faintly through the universe and faintly falling, like the descent of their last end, upon all the living and the dead.
Es pochte ein paarmal leise an die Scheibe, und er wandte sich zum Fenster um. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Er beobachtete schläfrig die Flocken, silbern und dunkel, die schräg zum Lampenlicht fielen. Die Zeit war für ihn gekommen, seine Reise gen Westen anzutreten. Ja, die Zeitungen hatten recht: Schneefall in ganz Irland. Schnee fiel überall auf die dunkle Zentralebene, auf die baumlosen Hügel, fiel sacht auf den Bog of Allen, und, weiter gen Westen, fiel er sacht in die dunklen aufrührerischen Wellen des Shannon.
Er fiel auch überall auf den einsamen Friedhof oben auf dem Hügel, wo Michael Furey begraben lag. Er lag in dichten Wehen auf den krummen Kreuzen und Grabsteinen, auf den Speeren des kleinen Tors, auf den welken Dornen. Langsam schwand seine Seele, während er den Schnee still durch das All fallen hörte, und still fiel er, der Herabkunft ihrer letzten Stunde gleich, auf alle Lebenden und Toten.